Der Gute Ton 1950
Liebenswürdigkeit aufbringen
will. Fehlen uns noch die nötigen Unterlagen um die gestellte Frage zu
beantworten, sollten wir wenigstens den Empfang des Briefes
bestätigen. Warum wollen wir bei einem Pessimisten unser
Stillschweigen als Ablehnung deuten lassen, oder bei einem
Optimisten falsche Hoffnungen erwecken? Es ist mutiger und auch
höflicher, sofort »ja« oder »nein« zu schreiben. Eine Einladung
beantwortet man umgehend, und nicht am Tage nach dem
stattgefundenen Fest.
TELEGRAMME.
Sie haben einen sehr grossen Vorteil: ihre Abfassung erspart faulen
Geistern die ermüdende Anstrengung, die ein Brief erfordert. Sie sind
aber schrecklich unpersönlich. Sie sollen nicht zu kurz sein, und keinen
»Telegrammstil« anzuwenden, da die Empfänger sie verstehen sollen,
auch wenn sie nur mit durchschnittlichem Verstand begabt sind und
nicht an Gedankenübertragung leiden.
POSTKARTEN.
Man schickt sie weniger seinen Freunden als seinen Feinden, damit
sie vor Eifersucht platzen, wenn sie an die wunderbare Reise denken,
die wir zur Zeit machen. Postkarten sind wahrscheinlich erfunden
worden, um die Abfassung eines richtigen Briefes zu ersparen. Die
Post, die nur ihr unmittelbares Interesse sieht, hat diese Brieffaulheit
ermutigt, indem sie eine Preisermässigung im Porto vorgesehen hat,
wenn der Text nicht länger als 5 Worte ist. Aber die guten Sitten tragen
nun einmal dazu bei die Post zu bereichern, denn sie erklären, dass es
sehr unhöflich sei, eine Postkarte ohne Umschlag zu schicken. Und mit
Umschlag ist der Preis dem eines Briefes gleich!
TELEFON.
Ein noch wunderbareres Mittel als alle anderen um nicht schreiben
zu müssen! Sie hängen den Hörer aus, drehen die Scheibe, und sind bei
den Leuten, die Sie erreichen wollten. Sie gratulieren sich zu Ihrem
Glück, dass die gewünschte Nummer nicht gerade besetzt ist, und sind
bereit, allen Ernstes der Stimme zu glauben, die am anderen Ende des
Drahtes Ihnen heuchlerisch sagt: »Oh, Sie stören mich gar nicht, ich
habe eben an Sie gedacht.« An dem Tag, an dem ein kleines System
erfunden wird, das uns das Gesicht des Angerufenen auf einer kleinen
Leinwand neben unserem Apparat zeigt, werden wir endlich wissen,
was man wirklich von uns denkt, und wir werden erfahren, wiewiel
mühsam beherrschte Wut ein Blick ausdrücken kann. Wir werden
dann nicht mehr in selbstzufriedenem Ton fortfahren: »Ich bin
Frühaufsteher, deshalb rufe ich immer gern früh die Leute an, die ich
unbedingt erreichen will. Und übrigens, ist 6 Uhr morgens wirklich
sehr früh? Ich weiss es nicht genau, da ich daran gewöhnt bin«, oder
»Ich konnte nicht einschlafen und habe mich daran erinnert, dass ich
Sie unbedingt anrufen muss... Ah, es ist schon 2 Uhr nachts und Sie
haben sicher schon geschlafen. Ich beneide Sie wirklich, ich Aermste
kann immer so schlecht einschlafen. Sie sagen, dass sich der Apparat
eine Etage tiefer befindet? Ah, deshalb habe ich so lange warten
müssen, bis Sie ausgehängt haben. Sie sollten meinem Beispiel folgen,
lassen Sie doch Ihr Telefon am Kopfende Ihres Bettes einrichten«. Was
gibt es Schrecklicheres als dieses Läuten, das immer anhebt, wenn man
im Bad, unter der Dusche oder beim Rasieren ist. Und die »wichtige«
Verbindung, um 6 Uhr morgens, derentwegen Sie sich der Gefahr einer
Lungenentzündung aussetzen, war nur wichtig für die Person, die Sie
anrief. Benutzen wir doch das Telefon mit Bedacht. Es ist bestimmt
eine wundervolle Einrichtung, um eine Auskunft am Bahnhof zu
verlangen, eine Taxe zu bestellen, oder den Auftrag dem Lieferanten
durchzusagen. Aber man soll seine Mitmenschen nicht damit zur
Verzweiflung bringen. Benutzen wir es nur bei Bekannten, die wir
genug kennen, um zu wissen, zu welcher Zeit wir sie am wenigsten
stören. Nicht jedermann ist Frühaufsteher oder ein an Schlaflosigkeit
Leidender, der glücklich ist, mitten in der Nacht eine freundliche
Stimme zu hören. Man isst im allgemeinen auch gerne ohne
unterbrochen zu werden. Es ist unhöflich, andere zu Zeiten anzurufen
in denen jeder zivilisierte Mensch bei Tisch sitzt. Das Telefon soll man
nur benutzen, wenn es eilt, und alle anderen Verbindungsmittel zu
lange dauern.
Müssen wir plötzlich jemanden besuchen, so schickt es sich, ihn
telefonisch darauf vorzubereiten. Es ist besser ihn durch einen Anruf
zu warnen, als gar nicht; niemand hat das Recht, Bekannte zu
überfallen, wenn es sich nicht um eine dringende Sache
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