Der Gute Ton 1950
scheuen.
DER STIL.
Der Briefstil spiegelt den Menschen wider! Sind Sie ein Mensch mit
Geist, so können Sie sich nicht mit banalen, abgegriffenen Redensarten
zufrieden geben. Wir geben Ihrnen kein Briefmuster, das Sie für
bestimmte Gelegenheiten nachahmen sollen. Man macht sich oft über
junge Mädchen lustig, die ein Tagebuch führen. Es ist keine so
schlechte Angewohnheit, da sie dadurch lernen, ganze Seiten zu füllen,
ohne etwas Wesentliches auszudrücken. Sie sind nicht wie die
Menschen, die unfähig sind, einen Brief von einer halben Seite zu
schreiben, selbst wenn sie den Untergang der Titanic miterlebt hätten.
Wir überlassen es anderen, Bücher zu verfassen, die man »Der
vollkommene Briefsteller« getauft hat und in denen man
nebeneinander findet: einen Brief, um eine Stelle zu suchen, — um die
Hand eines jungen Mädchens anzuhalten, um ein Duell zu fordern, um
seinen Nachbarn seinen Selbstmord anzumelden, und so weiter. Diese
Bücher sind erheiternder als der beste Spoerl-Roman.
Wenn Sie je einen solchen Briefsteller-Brief versenden, können Sie
sich darauf verlassen, dass sich der Empfänger totlacht, wenn er ihn
später einmal wieder liest. Aber wahrscheinlich wird er ihn sofort
zerreissen und denken, dass der Schreiber ein trauriger, gezierter
Mensch ohne Phantasie ist; und er wird es sich nicht wünschen, ihm zu
begegnen. Ueberlassen wir es nicht dem »perfekten Briefsteller« an
unserer Statt Eindruck zu machen. Wollen Sie sich von jemandem
anregen lassen, so wenden Sie sich lieber an Goethe, Napoleon oder
irgendeinen berühmten Mann. Sie werden feststellen, dass ihre Briefe
gar nicht veraltet sind, und dass es ihnen gelang, alle Themen zu
behandeln, und sich an alle Arten von Menschen in einem passenden
Ton zu wenden, ohne je auf den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit
zu verzichten.
Es gibt jedoch Höflichkeitsformeln, die man nicht erfinden kann,
wenn man sie nicht kennt. Wir geben Ihnen darum einige Anreden und
Schlussformeln. Wenn Sie an einen Staatspräsidenten oder einen
Minister schreiben, so vergessen Sie nicht, dass Ihr Brief mit
Sehr verehrter Herr Ministerpräsident oder Minister beginnt, und vor
Ihre Unterschrift
Ihr Ihnen sehr ergebener
gehört. An die verschiedenen Präsidenten schreiben Sie wie oben, nur
mit dem vollständigen Titel wie: Senatspräsident,... Man schreibt
heutzutage an den Ministerpräsident nicht mehr in der dritten Person.
Einem Rechtsanwalt schreiben Sie:
Sehr geehrter Herr Anwalt
mit der Schlussformel: Hochachtungsvoll. Wenn der Brief
persönlicherer Natur ist, unterzeichnen Sie mit: Ihr ergebener. Zur
Anrede: »Lieber...« gehört die Schlussformel »Ihr...«
Die Anrede an geistliche Würdenträger entspricht der mündlichen
Anrede. Die Schlussformel ist:
Mit ehrfurchtsvollstem Gruss und ergebenst
wobei Je nach der Stellung' das »st« wegbleibt.
Unsere demokratische Zeit hat die Unterschiede in der Anrede
zwischen Hochgestellten, Gleichgestellten und Untergeordneten
verwischt. Lediglich in der Schlussformel kann man den Grad des
Respekts zum Ausdruck bringen, von »ergebensten« bis zu den
»besten« Grüssen.
»Achtungsvoll« zu schreiben ist eine Beleidigung, — es scheint, dass
in unserem Zeitalter der Superlative ,die Achtung' allein nicht mehr
genügt, es muss schon Hochachtung sein.
DIE SCHREIBMASCHINE.
Es ist noch nicht überall üblich, Briefe mit der Schreibmaschine zu
schreiben. Das ist zu bedauern! Unsere Zeit hat der Zweckmässigkeit
viele Höflichkeitsformeln geopfert, warum soll es noch Fälle geben, in
denen man unbedingt mit der Hand schreiben muss? Die
Schönschreiber sind eine aussterbende Rasse, aber trotzdem sollen wir
die »Etikettewütigen« nicht beleidigen, indem wir ihnen einen mit der
Maschine geschriebenen Brief übersenden. Wenn sie unbedingt
unsere Handschrift enträtseln wollen, lassen wir ihnen diese Ehre.
Wenn sie etwas von Graphologie verstehen, werden sie schnell die
geringe Sorgfalt entdecken, mit der dieser Brief geschrieben wurde. Sie
werden sehen, dass es uns Spass machte, noch unleserlicher als
gewöhnlich zu schreiben. Man weiss, dass unsere Gedanken schneller
gehen als unsere Feder — das Gegenteil wäre beunruhigend für
unseren Verstand; versuchen wir aber nicht, die Schnelligkeit unseres
Geistes durch ein schreckliches Gekritzel zu beweisen, das schwerer zu
entziffern ist, als die ägyptischen Hieroglyphen. Wollen wir hoffen,
dass bald der
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