Der Gute Ton 1950
Frau, die sich vor
andern schminkt, ist — ohne sich dessen bewusst zu sein — auch für
heutige Begriffe unerzogen. Diese Angewohnheit ist unter der Jugend
so verbreitet, dass wir sie hier besonders erwähnen
DIE UNBEKLEIDETEN.
Wir werden in unserem Kapitel über die grossen Ereignisse im
Leben eines Menschen auch von der festlichen Garderobe sprechen.
Hier sei ein Fehler erwähnt, den Ausländer oft als eine unserer
Nationalsünden bezeichnen. Leider hat sie beinahe in der ganzen Welt
Schule gemacht. Man trifft dieses Uebel schon überall. Es ist
selbstverständlich angenehmer, bequemer und gesünder, im Sommer
kurze Hosen oder Sportkragen statt gestärkter Kragen zu tragen, die
unschön sind, wenn sie durch die Hitze schlapp werden. Aber das
Streben nach Bequemlichkeit ist keine Freikarte! Die Sehnsucht nach
Licht und Luft lässt sich durchaus mit guter Sitte in Einklang bringen.
Es ist reizend, wenn Kinder im Sommer zu Hause und auf der Strasse in
Badehöschen herumlaufen. Wir sprechen wirklich nicht im Namen des
Puritanismus! — aber jeder wird zugeben, dass von einem bestimmten
Alter an, der Charme einer solchen »Ausgezogenheit« ausser am
Strande oder auf dem Land — schwerlich angebracht ist. Wenn Mann
oder Frau über vierzig sich als Apollo von Belvedere oder Venus von
Milo gefallen, weiss man nicht genau, ob es unanständig oder nur häss-
lich ist. Es wäre bedeutend ästhetischer, mit leichten (nicht
durchsichtigen!) Stoffen die ermüdeten Glieder, die Krampfadern an
den Beinen und die jeder griechischen Anmut beraubten Nacktheiten
zu verdecken. Unsere Mitmenschen haben auch dieses Mal nicht das
Recht zu erfahren, dass unsere Körper einen Bildhauer nicht mehr
inspirieren könnten!
Es gibt kein Beispiel, dass irgend jemand in unseren Breitengraden
den Geist aufgegeben hätte, weil er im Sommer keinen Tiroleranzug
getragen oder während der Hundstage seine unteren Gliedmassen
nicht nackt gezeigt hätte. Diejenigen, die den ganzen Sommer ihre
Anatomie ausgestellt haben, stürzen sich mit den ersten Schneeflocken
auf ihre Ge-birgstracht und trennen sich bis zur Sommerhitze nicht
mehr von ihren Nagelschuhen. Sie verwechseln die Teppiche des:
Empfangszimmers mit den Schneehängen der Alpen.
Wollen wir uns wie anständige Leute kleiden und wollen wir den
Eskimos und den Dschungelbewohnern das Vorrecht ihrer Kleidung
überlassen. Erinnern wir uns des alten Sprichworts:
Kleider machen Leute!
II.
DAS KLEID UNSERER GEDANKEN
Wie seine Sprache, so der Mensch!
Hanns Gross,
Kriminalpsydhologie
DER RICHTIGE TON.
Das Wort ist, so sagt Lord Chesterfield, das Kleid unserer
Gedanken. Man hat uns zuerst nach unserem »stummen« Aeusseren
geschätzt, man wird uns nun nach unseren Worten beurteilen. Es liegt
an uns, ob der erste Eindruck bestätigt oder ausgelöscht wird. Ein paar
Silben schon enthüllen viel. Man braucht nicht Hellseher zu sein, um
aus dem Ton, in dem wir uns z. B. entschuldigen, zu erraten, ob wir
bescheiden sind oder uns anderen überlegen fühlen. Wenn uns der
Strassenbahnschaffner fragt, wohin wir fahren wollen, antworten wir
ihm nicht mit einem Murmeln, als handle es sich um ein gefährliches
Geheimnis. Wir werden dadurch nur gezwungen sein, dasselbe zwei-
und dreimal zu wiederholen, jedesmal werden wir mehr erröten und
schliesslich werden wir voller Verzweiflung die gewünschte
Haltestelle herausbrüllen. Es ist noch weniger zu empfehlen, mit
Stentorstimme eine Auskunft zu »deklamieren«, die nur ein ganz
begrenztes Publikum interessieren kann. Diese lauten Töne sind nur
den Strassenverkäufern und den Politikern in Versammlungen mit
freier Diskussion erlaubt, also in Situationen, in denen der Konkurrenz
wegen eine strenge Befolgung der guten Sitten nicht zu erwarten ist.
DIE AUSSPRACHE.
Die Höflichkeit lehrt uns, mit genügend erhobener Stimme zu
sprechen, damit wir von unserem Fragesteller gehört werden, aber
nicht von denen, die auf der Strasse an uns vorübergehen. Wir sollten
nicht vergessen, dass es viel wichtiger ist, gut auszusprechen als zu
schreien. Eine Unterhaltung mit einem Schwerhörigen wird uns die
Richtigkeit dieser Behauptung beweisen. Wir können von unserem
Fragesteller nicht erwarten, dass er aus unserem Grunzen errät, dass
wir uns nach der Gesundheit seiner Frau erkundigen. Ein ungezogener
Mensch wird uns nach jedem unserer Sätze ein klingendes »Was«
entgegenschmettern, ein höflicher Mensch
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