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Der Gute Ton 1950

Der Gute Ton 1950

Titel: Der Gute Ton 1950 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans H. Wiese
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Frau, die sich vor
    andern schminkt, ist — ohne sich dessen bewusst zu sein — auch für
    heutige Begriffe unerzogen. Diese Angewohnheit ist unter der Jugend
    so verbreitet, dass wir sie hier besonders erwähnen
    DIE UNBEKLEIDETEN.
    Wir werden in unserem Kapitel über die grossen Ereignisse im
    Leben eines Menschen auch von der festlichen Garderobe sprechen.
    Hier sei ein Fehler erwähnt, den Ausländer oft als eine unserer
    Nationalsünden bezeichnen. Leider hat sie beinahe in der ganzen Welt
    Schule gemacht. Man trifft dieses Uebel schon überall. Es ist
    selbstverständlich angenehmer, bequemer und gesünder, im Sommer
    kurze Hosen oder Sportkragen statt gestärkter Kragen zu tragen, die
    unschön sind, wenn sie durch die Hitze schlapp werden. Aber das
    Streben nach Bequemlichkeit ist keine Freikarte! Die Sehnsucht nach
    Licht und Luft lässt sich durchaus mit guter Sitte in Einklang bringen.
    Es ist reizend, wenn Kinder im Sommer zu Hause und auf der Strasse in
    Badehöschen herumlaufen. Wir sprechen wirklich nicht im Namen des
    Puritanismus! — aber jeder wird zugeben, dass von einem bestimmten
    Alter an, der Charme einer solchen »Ausgezogenheit« ausser am
    Strande oder auf dem Land — schwerlich angebracht ist. Wenn Mann
    oder Frau über vierzig sich als Apollo von Belvedere oder Venus von
    Milo gefallen, weiss man nicht genau, ob es unanständig oder nur häss-
    lich ist. Es wäre bedeutend ästhetischer, mit leichten (nicht
    durchsichtigen!) Stoffen die ermüdeten Glieder, die Krampfadern an
    den Beinen und die jeder griechischen Anmut beraubten Nacktheiten
    zu verdecken. Unsere Mitmenschen haben auch dieses Mal nicht das
    Recht zu erfahren, dass unsere Körper einen Bildhauer nicht mehr
    inspirieren könnten!
    Es gibt kein Beispiel, dass irgend jemand in unseren Breitengraden
    den Geist aufgegeben hätte, weil er im Sommer keinen Tiroleranzug
    getragen oder während der Hundstage seine unteren Gliedmassen
    nicht nackt gezeigt hätte. Diejenigen, die den ganzen Sommer ihre
    Anatomie ausgestellt haben, stürzen sich mit den ersten Schneeflocken
    auf ihre Ge-birgstracht und trennen sich bis zur Sommerhitze nicht
    mehr von ihren Nagelschuhen. Sie verwechseln die Teppiche des:
    Empfangszimmers mit den Schneehängen der Alpen.
    Wollen wir uns wie anständige Leute kleiden und wollen wir den
    Eskimos und den Dschungelbewohnern das Vorrecht ihrer Kleidung
    überlassen. Erinnern wir uns des alten Sprichworts:
    Kleider machen Leute!
    II.
    DAS KLEID UNSERER GEDANKEN
    Wie seine Sprache, so der Mensch!
    Hanns Gross,
    Kriminalpsydhologie
    DER RICHTIGE TON.
    Das Wort ist, so sagt Lord Chesterfield, das Kleid unserer
    Gedanken. Man hat uns zuerst nach unserem »stummen« Aeusseren
    geschätzt, man wird uns nun nach unseren Worten beurteilen. Es liegt
    an uns, ob der erste Eindruck bestätigt oder ausgelöscht wird. Ein paar
    Silben schon enthüllen viel. Man braucht nicht Hellseher zu sein, um
    aus dem Ton, in dem wir uns z. B. entschuldigen, zu erraten, ob wir
    bescheiden sind oder uns anderen überlegen fühlen. Wenn uns der
    Strassenbahnschaffner fragt, wohin wir fahren wollen, antworten wir
    ihm nicht mit einem Murmeln, als handle es sich um ein gefährliches
    Geheimnis. Wir werden dadurch nur gezwungen sein, dasselbe zwei-
    und dreimal zu wiederholen, jedesmal werden wir mehr erröten und
    schliesslich werden wir voller Verzweiflung die gewünschte
    Haltestelle herausbrüllen. Es ist noch weniger zu empfehlen, mit
    Stentorstimme eine Auskunft zu »deklamieren«, die nur ein ganz
    begrenztes Publikum interessieren kann. Diese lauten Töne sind nur
    den Strassenverkäufern und den Politikern in Versammlungen mit
    freier Diskussion erlaubt, also in Situationen, in denen der Konkurrenz
    wegen eine strenge Befolgung der guten Sitten nicht zu erwarten ist.
    DIE AUSSPRACHE.
    Die Höflichkeit lehrt uns, mit genügend erhobener Stimme zu
    sprechen, damit wir von unserem Fragesteller gehört werden, aber
    nicht von denen, die auf der Strasse an uns vorübergehen. Wir sollten
    nicht vergessen, dass es viel wichtiger ist, gut auszusprechen als zu
    schreien. Eine Unterhaltung mit einem Schwerhörigen wird uns die
    Richtigkeit dieser Behauptung beweisen. Wir können von unserem
    Fragesteller nicht erwarten, dass er aus unserem Grunzen errät, dass
    wir uns nach der Gesundheit seiner Frau erkundigen. Ein ungezogener
    Mensch wird uns nach jedem unserer Sätze ein klingendes »Was«
    entgegenschmettern, ein höflicher Mensch

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