Der Gute Ton 1950
Spuren der Mahlzeiten der vergangenen
Tage zu erkennen. Und jeder wird heutzutage sehen, dass das Grau der
Damenbluse früher einmal ein Weiss war. Andere besitzen ebensoviel
Kritik wie wir, und wir können ihnen schwerlich einen Vorwurf daraus
machen. Wohl ist nicht jedermann Psychologe und kann aus der Art,
wie Sie Ihre Krawatte binden, Ihre geheimsten Neigungen herauslesen,
aber jedermann wird streng über offene Manschettenknöpfe urteilen,
über einen mehr als einen Tag alten Bart, über Strümpfe in
Ziehharmonikaform und Haarfrisuren, die man »Nach der Schlacht«
nennen könnte, oder über Damenstrümpfe, deren Naht a n eine
Wendeltreppe erinnert. Diese Nachlässigkeiten werden den Kampf
enthüllen, den wir frühmorgens mit unserem Stundenplan kämpften.
Sie können auch darauf hinweisen, dass unser Wecker uns nicht
weckte, dass wir ihn überhören wollten, oder dass eheliche Stürme
über uns hinweggebraust sind. Wollen wir es vermeiden, solche
vertrauliche Einzelheiten andern mitzuteilen! Es gibt keine guten Sitten
und keine Höflichkeit ohne Diskretion. Die Anderen dürfen nichts
wissen. Geben wir ihrem Scharfblick doch keine Gelegenheit, sich an
uns, und noch dazu zu unserem Nachteil, zu üben!
DIE PASSENDE GARDEROBE.
Aber Ordnung und Sauberkeit genügen nicht, um uns den Ruf
»elegant« zu sein einzubringen. Wenn wir unauffällig sein wollen,
muss unsere Kleidung der jeweiligen Situation angepasst sein. Wenn
wir nicht gerade von dem elegantesten Modesalon der Stadt als
wandelnde Reklame finanziert werden, brauchen wir nicht für jede
Stunde des Tages eine andere Kleidung zu wählen. Selbst reiche
Nichtstuer haben heute andere Zerstreuungen gefunden. Die Zeit, die
wir durchlebten, hat mit ihren Einschränkungen die
Garderobevorschriften gelockert. Aber ebenso, wie es lächerlich wäre,
in Friedenszeiten in Luftschutzkellern zu leben, so wäre es verkehrt,
nicht an die Gepflogenheiten normaler Zeiten wieder anzuknüpfen.
Ihre Garderobe hat vielleicht noch nicht ihren Vorkriegsglanz
erreicht, aber vermutlich verfügen Sie doch wieder über genügend
Anzüge und Kleider, um sich nicht gerade unangenehm von Ihrer
Umgebung zu unterscheiden. Während des Krieges war es erlaubt, in
jeder Aufmachung zu einer Einladung zu erscheinen. Gott sei Dank
besteht heute kein Grund mehr dafür, so etwas zu dulden. Es ist ver^-
ständlich, dass sich ein Mann im Sportkostüm bei einer
Abendgesellschaft deplaciert fühlt, besonders wenn seine Gastgeber
auf Etikette halten. Wenn er versucht, seine Kleidung mit
Bequemlichkeit zu entschuldigen, wird er seine Situation nur noch
verschlimmern. Man sollte die Teestunde nicht mit der
Gymnastikstunde verwechseln. Solch ein Benehmen ist nicht nur
unhöflich, es beweist das Fehlen des Sinnes für Nuancen; und der Sinn
für Nuancen ist eines der wichtigsten Dinge im Leben.
Eine Uebertreibung der Etikette ist jedoch beinahe ebenso schlimm
wie ihr Gegenteil. Gastgeber, die ihre Gäste baten, im Strassenkostüm
zu erscheinen, um sie in Frack und Abendkleid zu empfangen,
erweisen ihren Gästen damit keine Ehrung. Echte Eleganz ist
unauffällig, besonders die der Gastgeber muss es sein. Es ist taktlos,
sich nicht der Garderobe der Gäste anzupassen. Ein Missgriff dieser
Art ist unverzeihlich und wenn sie den Mut dazu haben, sollten sich
die Gastgeber in einem solchen Falle zurückziehen, um die
notwendige Wandlung zu vollziehen. Die Höflichkeit erfordert es,
dass das Kleid der Gastgeberin besonders bescheiden ist. Sie darf nicht
den Anschein der Konkurrenz mit den geladenen Damen erwecken.
SCHÖNHEITSPFLEGE IN DER ÖFFENTLICHKEIT.
Das Bestreben, gepflegt zu erscheinen, soll auch nicht zur Manie
werden. Es ist unerzogen, sein Aeusseres in der Oeffentlichkeit in
Ordnung zu bringen. Ein Mann, der in Gegenwart anderer seinen
Kamm aus der Tasche zieht, um sich zu kämmen, nachdem er den Hut
abnahm, besitzt keine guten Manieren. Er sollte auch nicht mit den
Händen über sein Haar streichen. Es ist weniger schlimm, dass sein
Haar nicht ganz in Ordnung ist, als dass er vor andern unmanierlich
und kleinlich erscheint.
Eine Dame darf nicht vor andern zu Puder, Schminke und
Lippenstift greifen. Diese persönlichen »Toiletten-Geheimnisse« sollten
nicht enthüllt werden. Fürsten haben sich um die Gunst gestritten, dem
Sonnenkönig beim Zubettgehen sein Nachthemd zu reichen. Unsere
Zeit ist zwar demokratischer geworden, aber eine
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