Der Gute Ton 1950
sie verbesserlich sind. Eine
Verlobung von 1900 konnte den Verlobten den Charakter ihres
Partners in keiner Weise zeigen. Der Verlobte schickte, so oft es sein
Vermögen erlaubte, rosa oder weisse Blumen in das Haus seiner Braut.
Eine andere Farbe wäre unanständig gewesen. Die Anständigkeit
forderte grösste Zurückhaltung bei einem Zusammentreffen; es war
den Verlobten verboten, auf dem gleichen Sofa zu sitzen, bei
gemeinsamen Spaziergängen waren sie immer von einer
Anstandsdame begleitet. Man versuchte, den Schein zu erwecken, dass
die Verlobte Charme und nur Tugenden besass. Der Verlobte sollte bis
zur Heirat warten, um zu entdecken, dass alle diese Eigenschaften nur
Illusionen waren. Er konnte nicht eine S,ekunde ohne Zeugen in der
Gesellschaft seiner Verlobten bleiben, als wäre es in dieser kurzen Zeit
möglich gewesen, Dinge zu tun, die die Moral ausserhalb der Ehe
verbietet. Es war natürlich auch viel Taktik bei diesen strengen
Vorschriften, damit der junge Mann das Hochzeitsdatum so früh wie
möglich festsetzte, um endlich einmal mit seiner Herzensdame in Ruhe
sprechen zu können. Für den Mann um 1900 konnte die
Verlobungszeit einen Beruf ersetzen. Wenn seine Braut reich war,
sicherten ihm zahlreiche Einladungen ins Haus seiner Braut und der
Verwandten seinen Lebensunterhalt.
Man kann viele dieser alten Vorurteile ablehnen, aber einige unter
ihnen sind eben doch keine Vorurteile. Es ist durchaus berechtigt, dass
sich der Verlobte in dem Haus seiner Braut nicht wie in seinem eigenen
benimmt und sich dort niederlässt. Wenn er nicht in der gleichen Stadt
wie seine Braut wohnt, sollte er bei einem Besuch nicht in ihrer Familie,
sondern in einem Hotel wohnen.
Die Anstandsdame ist heute nur noch eine Erinnerung. Die jungen
Verlobten treffen sich, wo es ihnen gefällt oder wann und wo es ihnen
möglich ist. Wenn beide arbeiten, werden sie froh sein, wenn sie sich
fünf Minuten zwischen zwei Autobussen sehen können. Eine junge
Dame von heute gefährdet nicht mehr ihren Ruf, wenn man sie auf der
Strasse mit einem Herrn sieht, den sie vielleicht nachher nicht heiratet.
Auch wenn wir nicht übertrieben engherzig sind, finden wir es doch
nicht schicklich, alle Leute auf der Strasse zum Zeugen unserer
Leidenschaft zu machen. Es ist nicht unbedingt notwendig, sich in
einer Türecke zu küssen und dabei einen Weltdauerrekord
aufzustellen. Wenn Verlobte irgendwo eingeladen sind, sollten sie sich
nicht abseits aller anderen Sterblichen halten und stundenlang Hand in
Hand, ineinander versunken, dasitzen. Man wird sich nur lustig über
sie machen, wenn sie sich schnell küssen, sobald man sich nur für einen
Augenblick umdreht. Unsere Zeit glaubt nicht mehr an diese
Märchenliebe, an diese verzehrende Leidenschaft, an der man sterben
kann. Man wird höchstens eine Wette abschliessen, wie lange die Liebe
anhält. Solch leidenschaftliche Glückseligkeiten dauern nicht ewig. Sie
erfreuen nur die anderen, ohne ihren Neid zu erregen.
DIE ENTLOBUNG.
Eine Entlobung kann immer eintreten. Man sagt dann, um sich zu
trösten, »besser vorher als nachher«. Entlobte benehmen sich, als hätte
es niemals ein Heiratsversprechen gegeben. Man wird nicht alles
wütend verbrennen, was man bis jetzt verehrte, und Freunde und
Freundinnen vor dem »Verräter« warnen. Das wäre geschmacklos. Es
wäre ebenso lächerlich eine Werthersehnsucht zu zeigen, die nicht
lange andauern wird, und die heute ohne richtigen Selbstmord
niemand mehr ernst nimmt. Unsere materialistische Zeit denkt, dass es
sich hier um einen Kranken handelt. Enthalten wir uns darum lieber
solch übertriebener Aeusserungen!
DIE GESCHENKE.
Es gab eine Zeit, in der die Verlobten nur Blumen, gute Bücher und
Süssigkeiten schenken durften. Eine moderne Braut nimmt auch
praktische Geschenke an, aber ein Verlobter kann sich nicht erlauben
Geschenke zu machen, die er normalerweise später seiner Frau machen
wird, wie Wäsche oder Kleider. Er darf den Dingen nicht vorauseilen.
Es ist der jungen Verlobten erlaubt, dem Bräutigam etwas zu schenken,
aber sie wird keine Kravatte anbieten, die wahrscheinlich nicht seinem
Geschmack entspricht. Man kann auch nicht gut von ihm verlangen,
dass er sich schon vor der Hochzeit zu dem Geschmack seiner Braut
bekehrt. Sie soll ihn nicht im voraus ahnen lassen, was eine Heirat für
ihn bedeutet.
In Frankreich tragen die Verlobten keinen glatten Ehereif; das erste
Geschenk des
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