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Der Gute Ton 1950

Der Gute Ton 1950

Titel: Der Gute Ton 1950 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans H. Wiese
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Glück der Ehe. Betrachten wir einmal, was von den alten
    Hochzeitssitten übrig geblieben ist.
    DER ANTRAG.
    Heute macht ihn der junge Mann direkt der Auserwählten. Er kann
    aber auch von dem jungen Mädchen dem jungen Mann gemacht
    werden, das ist häufiger, als man glaubt, und keine Statistik hat
    erwiesen, dass die Initiative zu einer Ehe unbedingt von dem jungen
    Mann ausgehen muss, damit die Beiden glücklich werden. Die jungen
    Mädchen von heute glauben sich besonders modern, wenn sie »um die
    Hand des jungen Mannes anhalten«. Die Literatur und das Theater von
    1900 lehren uns das Gegenteil. Man sieht dort junge verliebte Mädchen,
    die sich weigern zu essen und langsam dahinsiechen, bis die
    instinktvolle Mutter sie zwingt, den geheimen Grund ihres Leids zu
    gestehen. Sie seufzen in einem letzten Atemzug den Namen des
    Erwählten, — und die Familie beginnt sofort die Verhandlungen. Mit
    Hilfe einer »optimistischen« Schätzung der Mitgift wollen sie den
    jungen Mann überzeugen, dass er verpflichtet ist, das junge, in
    Lebensgefahr schwebende Mädchen zu retten. Wir wollen hier nicht
    über die »Entführung« sprechen, die in mittelloseren Kreisen üblich
    war.
    In der Aristokratie stellte sich der Verlobte nie direkt dem Vater vor,
    der durch die Mutter des Mädchens unterrichtet und dessen Antwort
    leicht zu erraten war. Der junge Mann »eröffnete sich«, um in der
    Sprache des 19. Jahrhunderts zu sprechen, einem älteren Freund, der
    die Rolle eines Beschützers spielte. Auch dieser Beschützer konnte sich
    nicht direkt an die Familie wenden; er musste einem weiteren Freund
    »das Geheimnis« anvertrauen und ihn als Boten benutzen. Die Eltern
    des Mädchens entschieden dann, ob der junge Mann würdig war, dass
    man ihm ein erstes Zusammentreffen mit dem jungen Mädchen
    genehmigte. Die »Auserwählte« wusste natürlich nichts von der Sache
    und musste nach dem ersten Besuch in ganz gleichgültigem Ton ihre
    Mutter fragen, was sie von Herrn soundso hielte. Es schickte sich nicht,
    dass sie ihre Begeisterung zeigte. Wenn der junge Mann der Familie
    gefiel, kam er noch zwei oder drei Mal in das Haus, nahm allen Mut
    zusammen — und liess den Antrag durch einen dritten machen.
    Heutzutage empfiehlt sich die umgekehrte Reihenfolge. Wenn die
    jungen Leute glauben, dass sie wirklich wissen, was sie vorhaben, wird
    das junge Mädchen den jungen Mann zu Hause empfangen, ohne aber
    über ihre Absichten mit den Eltern zu sprechen. Es wäre ungeschickt
    und äusserst rücksichtslos, wenn sie ihren Eltern ganz ruhig erklären
    würde: »Ich will euch den Mann vorstellen, den ich mir als Mann
    gewählt habe«. Es ist besser, sie stellt den »Zukünftigen« ihren Eltern
    als einen Freund oder als einen Kameraden vor und fragt nachher in
    ganz gleichgültigem Ton ihre Mutter, was sie von Herrn soundso halte.
    Eine Mutter von heute sagt sofort: »Was macht er im Leben«? und nun
    beginnt für die junge Dame eine äusserst geschickte Propagandaarbeit,
    um die Eltern allmählich zu überzeugen, dass sich ihre ganze
    Sehnsucht verwirklicht, wenn Herr soundso ihre Tochter heiratet. Der
    junge Mann benimmt sich seinen Eltern gegenüber ähnlich, auch er
    wird seine zukünftige Frau im besten Licht zeigen.
    Es wäre ungeschickt von Eltern, auf die Frage ihres Sohnes oder ihrer
    Tochter, was sie von Herrn soundso oder von Fräulein X halten, sofort
    zu antworten: »Ich weiss, was du willst, aber so etwas wirst du nie
    heiraten«. Wenn die Kinder energielos sind, werden sie nachgeben. Die
    weniger Schüchternen werden in ihrem Vorhaben, auch wenn es noch
    gar nicht so endgültig festlag, nur bestärkt. Und in einer Familie, die
    bis zu diesem Tag ziemlich friedlich lebte, wird bald eine unerträgliche
    Spannung herrschen, die die jungen Leute zwingt, »Romeo und Julia«
    zu spielen. Sie werden vermutlich doch heiraten, aber die Versöhnung
    kommt erst mit dem ersten Kind. Wozu dieser Kraft- und
    Leistungsverlust? Die Eltern und ihre Kinder müssen diplomatisch
    vorgehen.
    Eltern und Kinder sollen den Eindruck geben, dass die Wahl von
    allen gewünscht und von allen angenommen war. Man feiert ein
    kleines intimes Fest an dem Tag, an dem die Eltern den jungen Mann
    annehmen, der ihnen ihre Tochter raubt und die Eltern des jungen
    Mannes die »Verführerin«, der es gelungen ist, ihren Sohn zu »angeln«.
    Die Eltern des jungen Mädchens empfangen; und von diesem Tag
    betrachtet man die jungen Leute als verlobt.
    Die

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