Der Gute Ton 1950
Glück der Ehe. Betrachten wir einmal, was von den alten
Hochzeitssitten übrig geblieben ist.
DER ANTRAG.
Heute macht ihn der junge Mann direkt der Auserwählten. Er kann
aber auch von dem jungen Mädchen dem jungen Mann gemacht
werden, das ist häufiger, als man glaubt, und keine Statistik hat
erwiesen, dass die Initiative zu einer Ehe unbedingt von dem jungen
Mann ausgehen muss, damit die Beiden glücklich werden. Die jungen
Mädchen von heute glauben sich besonders modern, wenn sie »um die
Hand des jungen Mannes anhalten«. Die Literatur und das Theater von
1900 lehren uns das Gegenteil. Man sieht dort junge verliebte Mädchen,
die sich weigern zu essen und langsam dahinsiechen, bis die
instinktvolle Mutter sie zwingt, den geheimen Grund ihres Leids zu
gestehen. Sie seufzen in einem letzten Atemzug den Namen des
Erwählten, — und die Familie beginnt sofort die Verhandlungen. Mit
Hilfe einer »optimistischen« Schätzung der Mitgift wollen sie den
jungen Mann überzeugen, dass er verpflichtet ist, das junge, in
Lebensgefahr schwebende Mädchen zu retten. Wir wollen hier nicht
über die »Entführung« sprechen, die in mittelloseren Kreisen üblich
war.
In der Aristokratie stellte sich der Verlobte nie direkt dem Vater vor,
der durch die Mutter des Mädchens unterrichtet und dessen Antwort
leicht zu erraten war. Der junge Mann »eröffnete sich«, um in der
Sprache des 19. Jahrhunderts zu sprechen, einem älteren Freund, der
die Rolle eines Beschützers spielte. Auch dieser Beschützer konnte sich
nicht direkt an die Familie wenden; er musste einem weiteren Freund
»das Geheimnis« anvertrauen und ihn als Boten benutzen. Die Eltern
des Mädchens entschieden dann, ob der junge Mann würdig war, dass
man ihm ein erstes Zusammentreffen mit dem jungen Mädchen
genehmigte. Die »Auserwählte« wusste natürlich nichts von der Sache
und musste nach dem ersten Besuch in ganz gleichgültigem Ton ihre
Mutter fragen, was sie von Herrn soundso hielte. Es schickte sich nicht,
dass sie ihre Begeisterung zeigte. Wenn der junge Mann der Familie
gefiel, kam er noch zwei oder drei Mal in das Haus, nahm allen Mut
zusammen — und liess den Antrag durch einen dritten machen.
Heutzutage empfiehlt sich die umgekehrte Reihenfolge. Wenn die
jungen Leute glauben, dass sie wirklich wissen, was sie vorhaben, wird
das junge Mädchen den jungen Mann zu Hause empfangen, ohne aber
über ihre Absichten mit den Eltern zu sprechen. Es wäre ungeschickt
und äusserst rücksichtslos, wenn sie ihren Eltern ganz ruhig erklären
würde: »Ich will euch den Mann vorstellen, den ich mir als Mann
gewählt habe«. Es ist besser, sie stellt den »Zukünftigen« ihren Eltern
als einen Freund oder als einen Kameraden vor und fragt nachher in
ganz gleichgültigem Ton ihre Mutter, was sie von Herrn soundso halte.
Eine Mutter von heute sagt sofort: »Was macht er im Leben«? und nun
beginnt für die junge Dame eine äusserst geschickte Propagandaarbeit,
um die Eltern allmählich zu überzeugen, dass sich ihre ganze
Sehnsucht verwirklicht, wenn Herr soundso ihre Tochter heiratet. Der
junge Mann benimmt sich seinen Eltern gegenüber ähnlich, auch er
wird seine zukünftige Frau im besten Licht zeigen.
Es wäre ungeschickt von Eltern, auf die Frage ihres Sohnes oder ihrer
Tochter, was sie von Herrn soundso oder von Fräulein X halten, sofort
zu antworten: »Ich weiss, was du willst, aber so etwas wirst du nie
heiraten«. Wenn die Kinder energielos sind, werden sie nachgeben. Die
weniger Schüchternen werden in ihrem Vorhaben, auch wenn es noch
gar nicht so endgültig festlag, nur bestärkt. Und in einer Familie, die
bis zu diesem Tag ziemlich friedlich lebte, wird bald eine unerträgliche
Spannung herrschen, die die jungen Leute zwingt, »Romeo und Julia«
zu spielen. Sie werden vermutlich doch heiraten, aber die Versöhnung
kommt erst mit dem ersten Kind. Wozu dieser Kraft- und
Leistungsverlust? Die Eltern und ihre Kinder müssen diplomatisch
vorgehen.
Eltern und Kinder sollen den Eindruck geben, dass die Wahl von
allen gewünscht und von allen angenommen war. Man feiert ein
kleines intimes Fest an dem Tag, an dem die Eltern den jungen Mann
annehmen, der ihnen ihre Tochter raubt und die Eltern des jungen
Mannes die »Verführerin«, der es gelungen ist, ihren Sohn zu »angeln«.
Die Eltern des jungen Mädchens empfangen; und von diesem Tag
betrachtet man die jungen Leute als verlobt.
Die
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