Der Gute Ton 1950
später, wer dagewesen ist. Von diesem Augenblick an beginnt das
Fest, und die junge Braut muss nicht mehr zu streng ausschauen. Man
kann in der Sakristei noch gut einige Gäste zum Lunch einladen, denen
man besonders danken will, dass sie gekommen sind, und die keine
Einladung zum Essen erhielten. Diese verspätete Einladung ist nicht
sehr schmeichelhaft aber auch nicht verletzend. Wenn man allerdings
sehr empfindlich ist, kann man sie ablehnen, unter dem Vorwand, dass
man schon über seine Zeit verfügt habe. Der Hochzeitszug bildet sich
wieder, aber diesmal geht die Braut am Arm ihres Mannes. Es folgen
der Vater der Braut mit der Mutter des Bräutigams und die übrigen
Paare. Die Beglückwünschung des jungen Paares durch die Freunde in
der Kirche ist nicht sehr schön, man wartet bis die Braut vor die
Kirchentüre tritt. Wir erinnern daran, dass man in der Kirche sofort
den Hut abnimmt, ihn aber in einer Synagoge aufbehält.
DAS HOCHZEITSESSEN.
Je nach der Bedeutung, die man dem Fest geben will, findet ein
einfaches Mittagessen mit den Eltern und guten Freunden statt; es
kann am Nachmittag ein Lunch mit Ball folgen und noch ein
Abendessen. Der Lunch schliesst sich im allgemeinen sofort an die
kirchliche Feier an. In gewissen Gegenden verlegt man ihn nach
einem kleinen Mittagessen.
Wenn der Lunch im Hause der Braut stattfindet, soll man nicht
vergessen, möglichst viele Möbel aus dem Zimmer zu entfernen und
eine Garderobe aufzustellen. Der Lunch kann auch in einem Restaurant
eingenommen werden, das für diese Art Feste eingerichtet ist. In der
Mitte des Saales steht ein grosser Tisch mit den Getränken und den
Speisen. Man setzt sich nicht an einen grossen Tisch, sondern sitzt im
Zimmer verstreut an kleinen Tischchen. In der Mitte der Lunchtafel
steht der Hochzeitskuchen. Die Braut schneidet für sich ein Stück ab.
Dann werden die Brautführer den Kuchen weiterteilen. Man vertraut
diese Arbeit niemals einem Diener an. Der Lunch kann sich bis zum
Abendessen verlängern, das ziemlich früh serviert wird. Das
Abendessen kann von einem Ball gekrönt werden, wenn man nicht
schon am Nachmittag getanzt hat.
Bei dem Essen nimmt das junge Paar die Ehrenplätze ein, es ist das
einzige Mal in ihrem Leben, dass die Ehegatten an einer Festtafel
nebeneinander sitzen. Sie sind von dem Brautführer und der
Brautjungfer umgeben. Die Eltern der Braut sitzen gegenüber, an der
rechten Seite des Vaters der Braut sitzt die Mutter des Bräutigams und
auf der linken Seite der Mutter der Braut sitzt der Schwiegervater.
Wenn man die übliche Tischordnung beibehält, sitzt der junge
Ehemann neben seiner Schwiegermutter, das heisst am Ehrenplatz,
und die Braut bekommt den Ehrenplatz für eine Dame, das heisst,
neben ihrem Vater, da ja die Familie der Braut die Gastgeber sind.
Ein lobenswerter Wunsch nach Sparsamkeit hat die reizende Sitte
verbreitet, während der schönen Tage auf dem Land zu heiraten. Das
Fest erhält dadurch einen Glanz und eine Freude, die eine Stadt nie
geben kann.
Das junge Paar ist natürlich nicht verpflichtet, den letzten Gast zur
Türe zu begleiten. Sie empfehlen sich auf französisch oder auf englisch,
wie die Franzosen sagen.
Bevor die Braut ihr Glück den Augen der anderen entzieht, soll sie
nicht vergessen, ihren Schleier unter die Freundinnen und Verwandte
zu verteilen: das soll Glück bringen. Vielfach hebt die Braut ihren
Schleier auf, um ihn über die Wiege des ersten Kindes zu legen.
Wer unbedingt originell sein will, kann eine Sitte wieder zu Ehren
bringen, die vor 40 Jahren der letzte Modeschrei war. Man heiratete um
Mitternacht. Das Essen und der Ball fanden vorher statt, die Braut
erschien weissgekleidet aber ohne Schleier, sie steckte ihn erst an, ehe
sie um Mitternacht zur Kirche ging.
DIE HOCHZEITSREISE.
Sie soll dem Ehepaar erlauben, die ersten Tage ihres gemeinsamen
Lebens allein zu verleben, ohne die beunruhigende Anwesenheit der
Eltern der Braut, die immer Angst haben, dass der Ehemann ihrem
»Schatz« nicht genügend Aufmerksamkeit und Liebe schenkt. Sie
ahnen nicht, dass für die Braut die Vormundschaft ihres Gatten
meistens eine süsse Täuschung ist im Vergleich zur elterlichen
Vormundschaft. Die jungen Ehegatten leben auf einer einsamen Insel
und geben so wenig Nachricht wie möglich von sich, doch immer so
viel, dass niemand sich beunruhigt. Man ist heute davon abgekommen,
zwei Stunden nach der Trauung in einen Zug zu
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