Der Gute Ton 1950
andern nie in Gesellschaft sagt, was er
von ihm hält. Man wird nicht alle Welt davon unterrichten, dass man
ein »Ungeheuer« geboren hat. Wenn ein Kind nur das geringste Gefühl
dafür hat, dass man ihm Achtung schuldig ist, wird es nur sehr schwer
eine solche Beleidigung vergessen. Man nimmt es in diesen Fällen
richtiger beiseite, um ihm einen Verweis zu geben oder vernünftig mit
ihm zu sprechen. Es ist auch überflüssig, dass Geschwister einer
solchen Zurechtweisung beiwohnen. Die Gefahr des Abstumpfens ist
sehr gross.
Ein Kind kann auch stolz darauf werden, ständig der Mittelpunkt zu
sein, genau so wie Verbrecher sich freuen, wenn ihr Bild auf der ersten
Seite einer Zeitung erscheint mit genauen Berichten über ihre
»Heldentaten«.
DAS KIND UND DER »FREMDE MENSCH“
Man wird seine Kinder fremden Menschen gegenüber nicht
schlechter machen, als sie es in Wirklichkeit sind. Aber es ist auch nicht
nötig, sie wie dressierte Hunde abzurichten. Man stellt Bekannten, die
man auf der Strasse oder am dritten Ort trifft, sein Kind vor. Es wäre
ungeschickt dies zu unterlassen, da wir selbst auf ein Kind Rücksicht
nehmen sollten. Man darf einem Kind nicht erst sagen müssen, dass es
»guten Tag« sagen soll. Ein unerzogenes Kind äussert bei solchen
Gelegenheiten oft, dass ihm die betreffende Person nicht gefällt oder
dass sie nicht schön ist. Es macht niemandem Freude, wenn man ein
Kind bitten muss, die Hand zu geben, oder sich zu verbeugen,
nachdem man ihm die Erfüllung jeden Wunsches versprochen hat.
»Bockige« Kinder können schwerlich umgestimmt werden. Man wird
ein Kind nicht auf der Strasse ohrfeigen oder prügeln, damit der
Fremde nicht noch um Gnade für das Kind bitten muss. Solche
Ermahnungen sollen früher und ständig gemacht werden. Wenn
das Kind aus Schüchternheit oder aus Abneigung »nicht mag«, soll
man es nicht wie einen abgerichteten Hund betrachten, der unbedingt
vor dem Publikum seine Nummer machen muss. Die Aussprache
zwischen den Eltern und dem Kind muss zu Hause stattfinden. Meist
entschliesst sich ein Kind aus eigenem Willen »guten Tag« zu sagen,
und nicht dann wenn man gewaltsam versucht, die kleine Maschine in
Bewegung zu setzen. Es ist klüger a n das Ehrgefühl des Kindes und an
seinen eigenen Willen zu appellieren. Ein Kind will sich schon früh wie
ein Erwachsener benehmen! Ein Fremder wird einem Kind ohne
übertriebene Vertraulichkeit antworten. Er sollte immer ein paar nette
Worte für das kleine Mädchen oder den kleinen Jungen haben, damit
sie sehen, dass man sich mit ihnen schon unterhalten kann. Aber diese
Unterhaltung soll nicht zu ausgedehnt sein, damit das Kind nicht
glaubt, es sei der Mittelpunkt. Es soll bescheiden bleiben.
KINDER AUF BESUCH...
Die Eltern dürfen die Anwesenheit ihrer Kinder dem Gastgeber nicht
aufzwingen. Sie haben eine so wunderbare Gabe, mit Geschirr und
zerbrechlichen Nippessachen zu spielen, eine so köstliche Begabung,
eine gespannte Atmosphäre hervorzurufen, wenn sie einmal ihre
anfängliche Schüchternheit überwunden haben, was nicht immer
gefällt. Man weiss, wie »diskret« Kinder sind und dass sie den
Unterschied zwischen dem, was man sagen kann und was man
verschweigen soll, nicht kennen. Sie verstehen alles, was sie nicht
verstehen sollen und vieles missverstehen sie. Man sollte vor Kindern
auch nicht von Staatsgeheimnissen sprechen. Es ist beinahe so
gefährlich wie vor Erwachsenen. Erfah-rungsgemäss spielen Kinder
nicht gern im Nebenzimmer — wir sprechen von unerzogenen
Kindern —, wenn man sie dorthin schickt. Sie ahnen, dass ihnen etwas
wichtiges »entgeht«.
Man nimmt seine Kinder zu Besuch nur mit, wenn sie besonders
eingeladen wurden. Auch wenn man zu Hause Besuch hat, wird man
in der gleichen Weise verfahren. Sie werden die Gäste kurz begrüs-sen.
Man erwartete von seinen Gästen nicht, dass sie die Kinder
bewundern, besonders nicht in deren Gegenwart. Ein Fremder sollte
nie den Fehler begehen, vor einem Kind über dessen Schönheit zu
sprechen. Das kann man sich erst erlauben, wenn das Kind älter als 18
Jahre ist.
KINDERWORTE.
Es gibt Eltern, die sich jahrelang über die Aussprüche der Kinder
begeistern. Sie glauben daraus zu ersehen, dass ihr Nachkomme ein
künftiges Genie ist. Oft kann man entdecken, dass der so bewunderte
Kinderausspruch gar nicht vom Kind selbst erfunden wurde. Ein Kind
plaudert meist un-bewusst nach, und ein Ausspruch wird oft
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