Der Gute Ton 1950
sprechen, und dass man die Beziehungen zu Menschen
abbrechen sollte, die ihren Kindern Geheimnisse anvertrauen oder vor
ihnen über ihre Freunde schlecht urteilen. Das Kind darf bis zum
nächsten Besuch wieder wild und ungezogen sein, dann spielt sich
vermutlich die gleiche Komödie ab. Es ist falsch, wenn man ein Kind
nur in Gesellschaft zu guten Sitten zwingt. Es sollte seinen Eltern
gegenüber immer höflich sein.
DIE KINDER SPRECHEN MIT IHREN ELTERN.
Man hört vielfach mit Empörung von jener Zeit sprechen, in der die
Kinder ihre Eltern in der dritten Person anredeten. Wir wollen die
Beziehungen zwischen Eltern und Kindern im 19. Jahrhundert nicht
unbedingt verteidigen und sie als musterhaft hinstellen. Aber es wäre
auch falsch zu glauben, dass die Kinder damals besonders gelitten
haben. Es ist viel bedauerlicher zu sehen, dass Eltern heutzutage stolz
und glücklich sind, wenn sich ihre Kinder ihnen gegenüber
rücksichtslos benehmen. Sie sind wahrscheinlich entzückt darüber,
dass die Anrede »Vater und Mutter« unmodern geworden ist und
durch andere Namen ersetzt wird. Sie können von Glück sagen, wenn
sie nicht gerade die »Alte« oder der »Alte« geworden sind. Sie sind
begeistert, dass die Kinder ihre Mutter wie eine Schwester und ihren
Vater wie einen Bruder betrachten. Die Eltern sind Kameraden
geworden, Mitschuldige und Verbündete, denen man seine
Dummheiten anvertraut und die gelegentlich selbst eine Rolle bei den
Max- und Moritzstreichen spielen.
Man soll Kinder nie ermutigen, kindisch zu bleiben. Das wird aber
zwangsläufig geschehen, wenn die Eltern deren dummen Streiche
bewundern, vielleicht weil sie die Zeit zurücksehnen, in der sie selbst
noch klein waren. Ein normales Kind will möglichst rasch selbstständig
werden. Es versucht nicht ewig Kind zu bleiben. Wenn Eltern Einfluss
auf ihre Kinder ausüben wollen, müssen sie Achtung von ihnen
fordern. Dieses Ziel erreicht man am leichtesten durch einen gewissen
Abstand. Wenn man zum Beispiel mit ihnen spielt, müssen die Kinder
wissen, dass das Spiel sofort aufhört, wenn die Eltern es wünschen.
Kinder dürfen dagegen nicht protestieren oder schreien, sie dürfen
ebensowenig ihre Eltern in einer Unterhaltung unterbrechen und
müssen lernen, ihre Eltern so höflich zu grüssen, wie sie einen fremden
Menschen grüssen würden. Nur wenn man von einem Kind Achtung
und Höflichkeit fordert, kann man von ihm verlangen, dass es sich
auch Dritten gegenüber richtig benimmt. Gute Manieren werden zur
Gewohnheit, man soll sich so jung wie möglich an sie gewöhnen.
DIE ELTERN SPRECHEN MIT IHREN KINDERN.
Eltern sollen nicht nur von ihren Kindern erwarten, dass sie ihnen
gegenüber höflich sind, sie selbst sind ebenso verpflichtet, ihre Kinder
mit Höflichkeit zu behandeln. Sie werden so früh wie möglich mit
ihnen wie mit einem Erwachsenen sprechen. Sie werden sich vor allen
Dingen bemühen, immer ausgeglichen zu sein und sich den Kindern
gegenüber so zusammenzunehmen, wie sie es Fremden gegenüber tun.
Wenn die Kinder heranwachsen, werden die Eltern aufhören, mit
ihnen die Babysprache zu sprechen. In einem französischen
Theaterstück fragt eine Mutter ihre vierjährige Tochter: »Wie deht es
denn Mamas kleinem Schatziliebling«! Und die Tochter antwortet:
»Aber Mutti, kannst Du denn nicht wie alle Leute sprechen!« es heisst
doch: ,Wie geht es Dir?, wann wirst du denn endlich aufhören wie ein
Baby zu reden?«
Es ist nicht richtig, wenn die Eltern ihre Kinder anschreien. Es ist ein
Zeichen eigener Unerzogenheit und ist darum meist wirkungslos. Das
Kind fühlt sofort, dass sich die Eltern nicht beherrschen können. Es
wird sich entweder vor ihnen fürchten oder warten, bis der Sturm
vorbei ist. In beiden Fällen erreicht man nicht, was man will. Brüllende
Verweise und Ermahnungen sind nur eine Strafe für die Nachbarn.
Ohrfeigen und Schläge sollen in der Gegenwart anderer Kinder oder
Erwachsener unbedingt vermieden werden. Zu diesen Mitteln sollte
man nur in aussergewöhnlichen Fällen greifen. Man erzielt das
gewollte Ergebnis leichter durch ein Spielverbot oder Entziehung einer
Süssspeise. Wir wollen nur hoffen, dass die Eltern beim Prügeln ihrer
Kinder nicht jenes Vergnügen empfinden, das dem Marquis von Sade
seinen Namen verdankt. Man kann den Kindern Vorwürfe machen, sie
müssen aber berechtigt sein und in ruhigem Ton gesagt werden. So wie
ein gut erzogener Mensch einem
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