Der Hauch von Skandal (German Edition)

jedoch belächelt und verachtet wurden. Lottie hatte nie mit ihr über ernsthafte Dinge geredet, und nach zehn Jahren in der Londoner Gesellschaft traute Joanna ebenfalls niemandem mehr, denn sie hatte schon früh lernen müssen, dass man hier keinen Respekt vor Geheimnissen hatte. Was heute unter dem Siegel der Verschwiegenheit besprochen wurde, ließ morgen die Gerüchteküche brodeln.
    „Nun, wenn du es selbst auf Lord Grant abgesehen hast, brauchst du auf mich keine Rücksicht zu nehmen“, versicherte Joanna. „Ich habe keine Affäre mit ihm.“ Sie seufzte. „Ich kann es nicht fassen, dass du ihn heute Abend eingeladen hast, Lottie, und dass du dieses ausgefallene Spektakel ihm zu Ehren veranstaltest, ebenfalls nicht.“
    Als sie bei Lottie eingetroffen war und erfahren hatte, dass Alex Grant an diesem Abend erwartet wurde, war sie entsetzt und fassungslos gewesen. Dass Alex, dem die Lobhudeleien der Gesellschaft angeblich so zuwider waren, ein solcher Heuchler war und die Einladung zu diesem Ball zu seinen Ehren angenommen hatte, enttäuschte Joanna auf unerklärliche Weise. Vermutlich war er doch nur ein weiterer selbstverliebter Abenteurer. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Lottie hatte mitgeteilt, er hätte schriftlich zugesagt. Infolgedessen war der Speisesaal mit riesigen Eisskulpturen geschmückt worden, eine davon war die lebensgroße Figur eines Mannes, der in der einen Hand ein Schwert aus Eis schwang und in der anderen die britische Flagge – er sollte eindeutig Alex bei der Eroberung neuer unbekannter Gefilde darstellen. Lange weiße Satinbahnen verhüllten die Treppe und erinnerten an einen gefrorenen Wasserfall. Von der Decke des Ballsaals hingen grüne und rote Laternen in Anlehnung an die Polarlichter. Die Krönung des Ganzen war ein ausgestopfter, mottenzerfressener Eisbär in einer Ecke der Eingangshalle, der die eintreffenden Gäste bedrohlich anstarrte. Es war alles himmelschreiend geschmacklos, aber irgendwie verfehlte es seine Wirkung nicht; für so etwas war Lottie nun einmal berühmt.
    „Ist es nicht fantastisch?“ Lottie strahlte. „Ich habe mich mal wieder selbst übertroffen.“
    „Allerdings“, murmelte Joanna.
    „Und deine Aufmachung passt haargenau dazu“, stellte Lottie mit einem anerkennenden Blick auf Joannas weißes Satinabendkleid und den Diamantschmuck fest. „Eine echte Inspiration! Ich liebe dich in dieser Farbe, Jo! Auch die anderen Damen werden sich künftig wie Debütantinnen kleiden, nachdem du diese Mode eingeführt hast!“
    „Ich glaube nicht“, meldete Merryn sich unerwartet zu Wort, „dass dieses ganze Spektakel nach Lord Grants Geschmack sein wird, Lottie. Es heißt, er sei ziemlich zurückhaltend.“
    „Unsinn“, widersprach Lottie. „Er wird begeistert sein.“
    „Nun, und wenn nicht, dann ist er bestimmt zu höflich, um das zu sagen“, vermutete Merryn. „Ich habe gehört, er ist die Ritterlichkeit in Person.“
    „Du scheinst eine ganze Menge über ihn zu wissen“, spöttelte Joanna liebevoll und ihre Schwester errötete. „Wer hat dir denn so lobend von ihm erzählt?“
    „Niemand“, erwiderte Merryn und errötete noch mehr. „Ich habe nur über seine Forschungsreisen gelesen, das ist alles. Mr Gable hat im Courier einen Artikel über ihn geschrieben. Er gilt als der heimgekehrte Held. Offenbar hat er eine Einladung des Prinzregenten abgelehnt, und nun sind alle umso entschlossener, ihn auf ihre Feierlichkeiten zu locken. In den Klubs ist sein Name in aller Munde.“
    Joanna erschauerte bei dem Wort Held. „Ich verstehe nicht, was es bei einem fehlgeschlagenen Versuch, den Nordpol zu erreichen, zu feiern gibt. Soweit ich weiß, sind David und Lord Grant aufgebrochen, um eine Nordost-Handelsroute über den Pol zu finden. Das gelang ihnen nicht, sie saßen im Eis fest, David starb und Lord Grant segelte wieder nach Hause.“ Sie hob gereizt die Hände. „Kaum ein Grund zum Feiern. Oder ist mir hier etwas Wesentliches entgangen?“
    Lottie schwenkte missbilligend den Fächer. „Sei nicht so streng, liebste Joanna. Es geht um die Aufregung, die Gefahr und das Abenteuer einer Expedition! Lord Grant ist die Verkörperung des edlen Helden, schweigsam, einzelgängerisch und dazu teuflisch gut aussehend, genau wie David.“
    „David“, wandte Joanna trocken ein, „war wohl kaum schweigsam und einzelgängerisch.“
    Lottie wand sich ein wenig und wich ihrem Blick aus. „Nun ja, David war wohl geselliger …“
    „So kann man das auch