Der heilige Schein
Vorgesetzten Mitwisser von ihm verlangen.
Diese Strategie wird im Übrigen nicht nur bei Fällen sexuellen Missbrauchs angewandt, sondern generell bei allem, was mit Sexualität zu tun hat. Es gibt unter dem Aspekt der Machtausübung nichts Praktischeres für den Papst und die Bischöfe, als wenn sie diskretes Wissen über intime Verfehlungen besitzen, die die »Übeltäter« um jeden Preis geheim halten möchten. Je verwerflicher diese Verfehlungen in den Augen der Kirche sind, desto größer ist die Gehorsamsleistung, die man erwarten kann - bis hin zur völligen Selbstaufgabe. So erklärt sich auch, dass man mit der wachsenden Zahl sich ihrer Homosexualität bewusster Priester die Homosexualität zur schlimmsten aller Sünden »aufwerten« musste.
Im Hinblick auf diese Vertuschungsstrategie gibt es natürlich nichts Schlimmeres, als wenn ein Betroffener seine vermeintlichen sexuellen Verfehlungen selbst öffentlich macht. Einerseits verliert die Kirche dadurch die Kontrolle über die Person, andererseits wird ihr aber auch die Möglichkeit genommen, den heiligen Schein halbwegs zu wahren.
Genau diese Indiskretion sah ich in meinem Fall für geboten an. Am 16. April 2010 hatte kreuz.net , auf Aussagen Haukes zurückgreifend und auch hierin ganz dem kirchlichen Denken verpflichtet, den »Fall David Berger« für abgeschlossen erklärt. Nachdem die Internet-Kreuzritter ihr Ziel erreicht hatten und ich als Herausgeber von Theologisches entsorgt war, rechnete man damit, dass ich mich nun verschämt zurückziehen würde.
Eine Woche später, am 23. April 2010, erschien mein Outing-Artikel in der Frankfurter Rundschau.
Kampf gegen ein »tödliches Krebsgeschwür«
Mein Schritt an die Öffentlichkeit hatte unglaublich viele positive Reaktionen zur Folge. Im privaten Bereich, zumal an meiner Arbeitsstelle, bekam ich - sieht man von einer einzigen Ausnahme ab - nur zustimmende Rückmeldungen . Kurz zuvor hatte der WDR eine Reportage über Schwulenfeindlichkeit an deutschen Schulen ausgestrahlt, und so freute es mich besonders, dass ich gerade von Schülern und Eltern so viel positive Resonanz erfuhr.
Auch aus kirchlichen Kreisen erhielt ich eine Flut von Briefen, Anrufen und E-Mails. Die meisten stammten von schwulen katholischen Priestern und Priesteramtskandidaten , vor allem aus Deutschland, aber auch aus anderen europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten. Ein Geistlicher, der längere Zeit im Vatikan tätig war, schrieb mir, meine Schätzung, dass etwa fünfzig Prozent der Priester in der deutschen Kirche schwul sind, sei noch untertrieben, wahrscheinlich seien zwei Drittel zumindest homosexuell veranlagt. Um diese Zahlen wisse man auch im Vatikan sehr genau.
Viele Briefeschreiber brachten mir gegenüber ihre Dankbarkeit zum Ausdruck, und immer wieder hieß es: Endlich sagt einer von uns mal offen, was Sache ist. Ein sehr konservativer Priester schrieb mir: »Als ich Ihren Text gelesen habe, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Das ist ja genau die Taktik, mit der man mich seit Jahren gefügig macht und unter Kontrolle hält. Ich glaube, ich wollte das bisher einfach nicht wahrhaben, weil es so ungeheuerlich ist.« Und ein Priester aus Frankreich, der einer traditionalistischen Gemeinschaft angehört: »Sie haben es auf den Punkt exakt getroffen. Es ist schon lange keine Frage der Moral mehr, sondern nur noch der Macht!«
Zugleich spürte ich bei vielen eine große Resignation. So etwa bei einem jungen Priester, der mir über Facebook schrieb, wo er sich mit römischem Priesterkragen und Talar präsentiert: »Hallo, guten Abend! Ich melde mich einfach mal auf diesem Wege bei Dir: ich bewundere Dich für den mutigen Schritt, Dich zu outen und die Konsequenzen zu tragen. So mutig bin ich nicht, ich muss es sagen. Als Priester lebe ich in und mit der scheinbar selbstverständlichen Doppelmoral. Der Artikel über Dich hat mir viel zu denken gegeben.«
Häufig zeigt sich die Resignation auch darin, dass man sich mit dem eigenen Los pragmatisch arrangiert hat. So nutzen viele homosexuelle Priester die Möglichkeit der anonymen, schnellen Triebbefriedigung in der schwulen Szene. Das ist unauffällig und wahrt in ihrem eigenen Wirkungskreis und gegenüber ihren Vorgesetzten den heiligen Schein des keuschen Priesters. Es gibt aber auch Geistliche oder Ordensleute, die mir berichteten, sie lebten seit Jahren mit einem anderen Priester der Diözese oder mit jemandem aus ihrer Ordensgemeinschaft in einer
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