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Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition)

Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition)

Titel: Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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sie an den Wangen und am Kinn dicht schloss.
    Jeanne traf mit verblüffender Schnelligkeit bei ihm ein. Freude schoss bei ihrem Anblick in ihm auf – das erste vertraute Gesicht seit Oakland – und dem folgte sogleich als Gegenreaktion eine tiefe Verwirrung. Er hatte keine Ahnung, weshalb er zu ihr hergefahren war, noch was er von ihr erwartete, von dieser Frau, zu der er seit fast einem halben Dutzend Jahren eine distanzierte Flirtfreundschaft unterhalten hatte, ohne sie je auf die Lippen geküsst zu haben.
    Jetzt hätte er sie gern geküsst, aber mit der Gesichtslungenmaske war das schwierig zu bewerkstelligen. Er begnügte sich mit einer Umarmung. Jeanne war eine kräftige Frau, von der Mutterseite her irgendwie ein wenig orientalisch, doch ohne eine Spur von orientalischer Zerbrechlichkeit, und sie nahm ihn stark und fest und herzlich in die Arme.
    »Los, komm«, sagte sie. »Du brauchst ganz dringend eine Dusche, und dann was zu essen, richtig?«
    »Richtig getippt.«
    »Gott, ist das schön, dich wiederzusehen, Paul.«
    »Ich freu mich auch.«
    »Aber es steht wohl ziemlich schlimm, ja? Ich hab dich noch nie mit so einem Gesicht gesehen.«
    »Nein, es steht nicht sehr gut. Das stimmt genau.«
    Jeanne stieg auf der Fahrerseite ein und befahl dem Wagen, wohin er sie bringen sollte. Während sie sich in den Verkehr einfädelten, sagte sie: »Ich hab in der Personalzentrale nachgefragt. Anscheinend bist du nicht mehr in der Firma.«
    »Sie haben mich terminiert.«
    »Ich habe noch nie gehört, dass die sowas machen, außer es gibt Gründe.«
    »Es gab Gründe, Jeanne.«
    Sie schaute ihn an. »Um Himmels willen, was war los?«
    »Ich hab Mist gemacht«, sagte er. »Ich tat etwas, das ich für richtig hielt, und es war falsch. Ich kann dir das Ganze erzählen, wenn es dich interessiert. In der Hauptsache war es so, dass die Sache eine Menge schlechte Werbung bedeutete und der Firma Ärger mit Kyocera brachte, also haben sie mich mit 'nem Tritt in den Arsch rausgesetzt. Eine Sache der Firmenpolitik. Sie mussten mich feuern.«
    »Armer Paul. Da haben sie dir aber richtig einen reingewürgt. Was hast du jetzt vor?«
    »Duschen und irgendwas essen«, sagte er. »Weiter kann ich derzeit nicht planen.«
    Jeanne bewohnte ein Zweizimmerapartment – Wohnzimmer mit Küche, ein Schlafzimmer – draußen in einer der westlichen Vorortbezirke Chicagos. Die Räume waren dermaßen dicht versiegelt, dass sie nahezu luftlos wirkten, und die Klimaanlage war alt und asthmatisch, laut und fast wirkungslos.
    Für Gäste war in der beengten Wohnung kaum Platz. Carpenter überlegte, ob er sich für die Nacht wohl ein Hotel suchen müsse, wenn er nicht wieder im Wagen schlafen wollte, und fragte sich, wie er das bezahlen sollte. Vielleicht erlaubte ihm Jeanne ja, auf dem Fußboden zu schlafen. Er duschte so hingebungsvoll lange, wie er es anständigerweise glaubte tun zu dürfen, vielleicht sechs, sieben Minuten lang, und zog sich frische Sachen an. Als er wieder erschien, hatte Jeanne zwei Teller voll Algenkekse und Sojaspeck und etliche Flaschen Bier auf dem Tisch.
    Während sie aßen, erzählte er seine Geschichte, ruhig und leidenschaftslos, angefangen von dem Hilfsersuchen Kovalciks bis zu der abschließenden Unterhaltung mit seinem Anwalt Tedesco. Inzwischen kam ihm das alles eher vor wie eine Geschichte, von der er in den Abendnachrichten gehört, nicht wie etwas, das ihm selbst widerfahren war, und er blieb dabei fast völlig empfindungslos, als er Jeanne den Ablauf der Sache schilderte. Sie hörte fast kommentarlos bis zu Ende zu. Dann sagte sie nur: »Was für ein Scheißspiel, Paul.«
    »Ja.«
    »Hast du dran gedacht, Revision zu verlangen?«
    »Bei wem? Beim Papst? Ich sitz auf meinem nackten Arsch, Jeanne. Das weißt du doch ebenso gut wie ich.«
    Sie nickte nachdenklich. »Ja, wahrscheinlich. Ach, Paul, Paul …«
    In der hermetisch abgeschotteten Wohnung brauchten sie die Atemschutzmasken nicht zu tragen. Sie wandte ihm das Gesicht zu, und er sah einen Ausdruck in ihren Augen, dessen Unwägbarkeiten ihn verwirrten: wie zu erwarten, war da Besorgtheit und Sympathie, aber hinter dem so etwas wie ein Schimmer von echter Liebe, und dahinter – was? Angst. Ja, es sah aus wie Furcht, dachte er. Aber Angst wovor? Vor ihm? Nein, dachte er. Sie hat Angst vor sich selbst.
    Bedächtig schenkte er sich Bier in sein Glas nach.
    Sie fragte: »Wie lang willst du in Chicago bleiben?«
    Er zuckte die Achseln. »Ein, zwei Tage, denke ich.

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