Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition)
derzeit. In letzter Zeit gab es zwischen Samurai und K-M ziemlich böses Voodoo, schlimmer als gewöhnlich. Irgendwas mit dem Kontrakt zur Fruchtbarmachung der Wüste Gobi, diverse drastische Spionagesachen, die schiefgelaufen waren, irgend etwas von der Art. Außerdem hatte er, Carpenter, ja jetzt seinen Eisberg, um den er sich kümmern musste. Derzeit konnte er weitere Abenteuer wirklich nicht brauchen.
Außerdem stieg von ganz tief unten ein leiser bohrender Argwohn in ihm auf, mit einem ganz, ganz dünnen Anflug von Paranoia, hätte man vermuten können, nur dass eben Carpenter in den letzten dreißig Jahren eine so gründliche Ausbildung in der Realitätenschule des Lebens genossen hatte, dass er ganz und gar nicht sicher war, ob es so etwas wie Paranoia überhaupt gab. Die Welt wimmelte von Mistkerlen, die es immer darauf abgesehen hatten, dich reinzulegen. Und wenn du hier draußen an Bord eines fremden Schiffs gingst, dann liefertest du dich denen absolut aus. Was, wenn die einen Trick mit dir vorhatten?
Aber er wusste auch, dass man die Vorsicht zu stark übertreiben konnte. Ihm war nicht wohl bei der Überlegung, ein Schiff im Stich zu lassen, das in einem Notfall um Hilfe gebeten hatte. Vielleicht hatten ja die uralten Gesetze der Seefahrt – ähnlich wie alle sonstigen Reste des früheren anständigen Verhaltens zwischen Menschen – in dieser elendigen verwirrten, unter Überhitzung leidenden Zeit keine Gültigkeit mehr, doch er fühlte sich noch immer nicht völlig frei von Regungen wie Schuld oder Scham. Außerdem glaubte er daran, dass einem alles im Leben vergolten wird: Du lässt einen andern abfahren, wenn er dich um Hilfe bittet, und ziehst damit vielleicht prompt etwas später genau das gleiche auf dich herab.
Sie beobachteten ihn alle. Rennett, Nakata, Hitchcock.
Hitchcock sagte: »Was wirste jetzt machen, Cap'n? Gehst du rüber zu denen?« Ein Glitzern in den Augen, auf dem Gesicht ein boshaftes überhebliches Grinsen.
Was für ein ekliger Arsch, dachte Carpenter.
Er warf dem älteren Mann einen grimmigen Blick zu und fragte: »Du denkst also, es ist sauber?«
Hitchcock zuckte nichtssagend die Achseln. »Kann ich nich' sagen. Du bist hier Käp'n, Mann. Ich weiß bloß, die sagen, sie haben Trabbel und brauchen Hilfe.«
»Und wenn das irgendwie 'ne schiefe Nummer ist?«
Hitchcocks Blick blieb ruhig, unverbindlich, desinteressiert. Die breiten Schultern schienen von einer Seite des Schiffs bis zur anderen zu reichen. »Sie bitten um Hilfe, Cap'n. 'n Schiff braucht Hilfe, du bringst Hilfe, daran hab ich immer geglaubt, meine ganzen Jahre auf See. Aber vielleicht denken da die Leute weiter oben anders drüber. Und wie ich schon gesagt hab, du bist der Boss, nicht ich.«
Carpenter stellte fest, dass er sich wünschte, dieser Hitchcock würde seine verdammten alten Fahrensmannerinnerungen an die gute alte Zeit für sich behalten. Aber – scheiß drauf! Der Mann hatte recht. Ein Schiff in Seenot war ein Schiff in Seenot. Er würde also zu denen hinübergehen und nachsehen, was da los war. Selbstverständlich würde er das tun. Ihm war auf einmal klar, dass er von Anfang an gar keine andere Wahl hatte.
Er sagte zu Rennett: »Sag Caskie, sie soll diesen Kovalcik informieren, dass wir den Berg ansteuern und Markierungshaken anbringen, um unseren Besitzanspruch festzulegen. Das dürfte etwa anderthalb Stunden dauern. Und hinterher gehe ich dann vielleicht zu ihnen rüber und sehe nach, was sie für Probleme haben.«
»Verstanden«, sagte Rennett und ging unter Deck.
Inzwischen waren neuere Daten über den Berg hereingekommen. Carpenter konnte nun erstmals die Erosionsnarben über der Wasserlinie an der Aufwindseite des Eisbergs sehen, die Unterspülungen, die stark abbruchgefährdeten Überhänge, die sich da bildeten. Die Ausspülung bedeutete nicht unbedingt, dass der Berg kentern musste – das gab es bei Bergen von diesem Trockendocktyp selten –, aber sie würden es mit einer Menge lausiger Schwankungen zu tun bekommen, mit Krängen und Rollen in kabbeligem Wasser, kurz, einer echten verpissten Sache rundum. Der Tag entwickelte sich sehr schnell zu einer sehr ekligen Geschichte.
»Jesus!« Carpenter schob Nakata die Visuals hin. »Da, schau dir das mal an.«
»Kein Problem. Wir müssen ihn einfach mit den Krampen von Lee packen, das ist alles.«
»Yeah. Klingt gut.« Es klang so einfach. Irgendwie brachte Carpenter trotz allem ein Grinsen zustande.
Die Rückseite des Eisbergs
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