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Der hellste Stern am Himmel

Der hellste Stern am Himmel

Titel: Der hellste Stern am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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noch gewesen waren. »He, Sie, Herr Facharzt, meine Mum hat gerade wieder den Verstand verloren. Kommen Sie doch mal runter und machen Sie jetzt den Intelligenztest.«
    »Sally! Still, Sally! Schrei nicht so!«
    »Ich heiße nicht Sally! Ich bin Lydia, deine Tochter !«
    Ellen hatte die Augen weit aufgerissen, ihre Unterlippe zitterte. Sie sah wie ein getadeltes Kind aus, und die Schuldgefühle zwangen Lydia praktisch in die Knie. »Es tut mir leid, Mum, es tut mir so leid. Du kannst nichts dafür, ich weiß, dass du nichts dafür kannst.«
    »Mir tut es auch leid!«
    Schluchzend fielen sie sich in die Arme.
    »Sei nicht böse mit mir«, flehte Ellen an Lydias Schulter mit erstickter Stimme.
    »Ich bin ja nicht böse. Es tut mir leid, Mum, einfach leid.«
    »Ist schon gut, Sally, meine Süße, mein Schatz, ich tue alles für dich.«

    Lydia starrte vor sich hin, ohne die Straße zu sehen. Sie war so niedergeschmettert, dass es ihr nichts ausmachte, wie sie fuhr.
    Sie hatte so sehr kämpfen müssen, um diesen Termin zu bekommen, und sie hatte so sehr gehofft, dass ein echter Arzt das sehen würde, was sie sah, und dass ihre Mum zu einem Scan überwiesen und der Schaden in ihrem Gehirn festgestellt würde, dass man sie heilen würde.
    Was konnte Lydia jetzt noch ausrichten? Noch einmal zu Buddy Scutt gehen und sich ein zweites Mal überweisen lassen? Der Schwachkopf würde ihr keine Überweisung ausstellen, oder er würde sie wieder zu einem seiner Freunde schicken, der die gleichen Ansichten vertrat. Was konnte man tun, wenn ein Arzt unfähig war oder sich sogar weigerte zu erkennen, dass jemand krank war und den Zugang zur Realität verlor oder wie immer man es nennen mochte? Vielleicht konnte sie mit ihrer Mutter zu einem anderen praktischen Arzt gehen, einem, der kein alter Freund war und der für sich selbst keine negativen Auswirkungen einer Diagnose befürchtete. Das wäre ganz schön schwierig. Ihre Mutter hatte schreckliche Angst, in der Stadt irgendjemandem untreu zu werden und Leute zu beleidigen. Noch heute ging sie zu dem Fleischer, der ihr vor fünfundzwanzig Jahren zu Murdys Konfirmation anderthalb Pfund schlecht gewordenen Schinkenbraten verkauft hatte.
    Jetzt wollte sie nicht darüber nachdenken, beschloss Lydia. Sie wollte an etwas anderes denken, an etwas Schönes. Aber ihr Gehirn konnte nicht aufhören, ein Schreckensszenario nach dem anderen zu produzieren.
Wenn es alles noch schlimmer wurde? Was, wenn ihre Mutter nicht mehr allein leben konnte? Außer Flan Ramble waren die meisten Nachbarn von früher nicht mehr da. Fast alle Häuser in ihrer Straße waren an junge Leute verkauft worden, die nach Dublin pendelten und in Büros arbeiteten und den ganzen Tag nicht da waren und die außerdem keine Lust hatten, sich um eine senile Frau zu kümmern.
    Aber warum sollte ihre Mutter von dem Wohlwollen ihrer Nachbarn abhängig sein, wenn sie doch vier Kinder hatte? Nur dass ihre Brüder nicht bereit waren, einen Teil der Verantwortung zu übernehmen, und Lydia konnte sie nicht dazu zwingen. Sie konnte fast alle Menschen zu fast allem zwingen, aber ihre Brüder waren aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sie.
    Sie sagten immer nur, Lydia solle wieder nach Boyne ziehen, wenn sie sich solche Sorgen machte. Aber sie war in Dublin besser aufgehoben, sie konnte dort mehr Geld verdienen … Außerdem wollte sie nicht wieder nach Boyne zurück. Um es milde auszudrücken. Da würde sie auch den Verstand verlieren. Es wäre wie lebendig begraben sein. In kürzester Zeit wäre sie so verrückt wie ihre Mutter.
    Oh, Grundgütiger, wie sie es bedauerte, nicht mehr die zu sein, die sie einmal gewesen war, bevor diese riesige, beschissene Sorge in ihr Leben trat. Da war sie strahlend und hart und gegen allen Schmerz gefeit, und alles war möglich, weil sie sich vor nichts fürchtete. Jetzt war sie verwundet und wehrlos und verletzlich.
    Sie war zu jung für all dies. Für ihre Mutter gab es keine Besserung, aber niemand teilte die Last mit ihr, und
man sollte nicht diese Liebe und diesen Schmerz, die ganze Angst und Einsamkeit erdulden müssen, wenn man egoistisch, verantwortungslos und sechsundzwanzig war.
    Das Handy in ihrem Schoß piepte mit Doppelpiep, und ihre Nerven lagen blank. Gilbert! Aber nein, es war eine Nachricht von Poppy. Na gut! Das war’s dann! Acht Tage waren vergangen, und acht Tage war lang genug. Gilbert rief sie nicht an, sie rief ihn nicht an. Die Spur im Sand und der ganze Quatsch. Sie würde

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