Der hellste Stern am Himmel
will.«
»Ich kann Zeitvergeudung nicht ausstehen«, entgegnete Lydia frustriert. Zurzeit hatte sie so selten mal einen freien Abend …
»Schneller als wir kann man nicht Schlange stehen«, beruhigte Poppy sie. »In zehn Minuten sind wir drin.«
»Zehn Minuten!«, rief Lydia. »Dieser arme Mann hier –« Sie zeigte auf einen großväterlichen Mann in der Sikh-Gesellschaft, der gesund, aber uralt war und einen beeindruckenden alttestamentarischen Rauschebart trug sowie einen Turban von der Größe eines kleinen Autos – »könnte in den nächsten zehn Minuten sterben. – Ich meine das nicht persönlich«, sagte sie schnell zu dem Mann.
Er sagte, er nehme es auch nicht persönlich, sei aber ganz ihrer Meinung, denn in seinem Alter, mit einundachtzig, wollte er möglichst viel aus jeder Minute rausholen. »Ich wünsche mir, würdig zu sterben«, erklärte er. »Sollte ich in den frühen Morgenstunden sterben, während ich darauf warte, dass man mir in einer angesagten Bar in Dublin den Eintritt verweigert, wäre das nicht würdig. Der Nachruf müsste dann entsprechend vage sein.«
»Man könnte schreiben, dass Sie im Kreis Ihrer Familie und Freunde gestorben seien«, meinte Lydia. »Das würde sogar stimmen.« Sie deutete auf die vielen Männer mit Turban. Die Männerparty – direkt aus Birmingham – zählte siebzehn Teilnehmer aus vier Generationen: der Bräutigam, sein Vater, sein Großvater und Urgroßvater
und eine Mischung von Cousins, Brüdern und Onkeln.
»Sie scheinen eine junge Frau mit vielen Fähigkeiten zu sein«, sagte der alte Mann zu ihr. »Wenn Sie mich vom Schlangestehen befreien könnten, wäre ich Ihnen dankbar.«
»Meinetwegen.« Lydia nahm die Herausforderung gern an, sie reckte sich und rief mit lauter Stimme: »He! Sieht so aus, als würde es der Opa hier nicht mehr lange machen.«
Mehrere der Wartenden schienen das ernst zu nehmen, doch dann rief jemand – am nächsten Tag versuchten sie festzustellen, wer, aber keiner hatte eine so klare Erinnerung, dass er es genau sagen konnte –, »Wir kidnappen den Viking Splash!« Und der Vorschlag fand allgemeine Billigung, sogar die von Shoane.
Die Sikhs, Lydia und ihre drei Freundinnen sowie verschiedene andere, die sich ihnen anschlossen, gaben ihren Platz in der Schlange auf und stürmten durch die Partygänger auf der Dawson Street zur Haltestelle des Viking Splash.
Bei dem Viking Splash handelte sich um ein Amphibienfahrzeug, das bei Touristen sehr bliebt war. Auf seiner Fahrt durch Dublin kam es an vielen Sehenswürdigkeiten vorbei und wagte als elektrisierendes Finale einen Sprung in den Grand Canal, wo es dann gemächlich herumschipperte, bis es wieder an Land kroch. Normalerweise war es nur tagsüber unterwegs, aber die Sikhs – auch hier waren die Einzelheiten unklar – hatten plötzlich ein paar neue Freunde in ihrer Mitte, drei Männer, die alle Kevin hießen und von denen einer ein Viking-Splash-Tourleiter
war. Er hatte den Schlüssel aus dem Büro entwendet und war bereit, eine Nachtrundfahrt zu machen, zum reduzierten Preis und strikt inoffiziell.
Weil der Gedanke, dass sie für die Dauer der Rundfahrt (fünfundvierzig Minuten) keinen Alkohol haben würden, schrecklich war, hatte Poppy einer Gruppe von Obdachlosen zehn Dosen Cider abgekauft und verteilte die nun an Lydia, Shoane, Sissy und die drei Kevins sowie an die lustige Bulgarin aus dem Schönheitssalon und ihren lustigen Freund sowie an die stumme große Frau, die, wie sich später herausstellte, zu niemandem gehörte. (»Ich dachte, sie gehört zu den Bulgaren.« »Die drei Kevins dachten, sie gehört zu uns.«) Die Sikhs tranken nicht, was die anderen sehr verwunderte.
Alle kletterten auf das Gefährt – die orangefarbenen Schwimmwesten passten nicht über die Turbane der Sikhs, aber das machte jetzt auch nichts mehr, sie verstießen schon gegen so viele Gesetze, eins mehr spielte da keine Rolle –, und sie fuhren los, in die Nacht hinein.
Das macht doch Spaß, dachte Lydia glücklich, als die Gebäude an ihr vorbeisausten. Wenn sie schon den lukrativsten Abend der Woche, den Donnerstagabend, verpassen musste – und das musste sie, denn mit Poppy war sie seit dem ersten Schultag befreundet, da konnte sie bei ihrer Frauenparty doch nicht fehlen –, dann sollte es wenigstens ein guter Abend sein.
Donnerstagabends stiegen die großen Partys, mehr noch als freitags, und normalerweise verbrachte Lydia die Nacht damit, Gruppen von betrunkenen Mädchen zu
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