Der Henker will leben Kommissar Morry
alle Welt erfährt, daß seine Mutter eine Doppelmörderin ist... ganz davon zu schweigen, welche seelischen Konflikte das für ihn heraufbeschwören muß!"
Die Frau erschauerte. „Ein gräßlicher Gedanke! Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht? Wissen Sie eigentlich, daß ich nach Ferricks Besuch fest entschlossen war, den Agenten töten zu lassen? Aber dann ging ich in mich und begriff, daß es so nicht weitergehen kann. Bisher hatte ich nur getötet, um Marcus zu helfen..."
Claremont unterbrach die Frau. „Was hatte der Tod des Butlers mit diesem Vorsatz zu tun?"
„Das ist eine andere Sache, aber auch sie mußte sein, um Marcus im seelischen Gleichgewicht zu halten. Elliot wußte, daß ich Deila Glyne getötet hatte. Er fing an, mich zu erpressen. Da verlor ich die Nerven und faßte den Plan, auch ihn zu töten. Ich wünschte, ich hätte das nicht getan, denn ich konnte nicht wissen, daß er Ellen Brewer, seine Verlobte, in alles eingeweiht hatte! Wie gesagt... ich tötete ihn nur, weil ich mich davor fürchtete, daß Marcus durch Elliot erfahren könnte, daß ich eine Mörderin bin."
„Aber jetzt wird er es erfahren müssen, nicht wahr... und nun ist alles viel schlimmer!"
Das Zucken um die Lippen der Frau verstärkte sich. „Es wird ihn zerbrechen", würgte sie hervor. „Er wird daran zugrunde gehen. Das ist die schlimmste, die furchtbarste Strafe, die mich treffen kann. Ich wollte Marcus beschützen, ich wollte ihm helfen... aber statt dessen habe ich ihn zerstört!"
Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen. Claremont stand auf. Er steckte sich eine Zigarette in Brand und trat an das Fenster. Während er den Vorhang beiseite schob und auf die Straße schaute, kam ihm zum Bewußtsein, wie seltsam traurig ihn dieses Geständnis stimmte.
Er war am Ziel. Er hatte, wenn auch durch glückliche Umstände, einen Doppelmord aufgeklärt. Aber er konnte darüber keinen Triumph empfinden. Langsam wandte er sich um. Die Frau ließ die Hände fallen. In ihren geröteten Augen schimmerte keine Träne. Wie zerbrochen und mit hängenden Schultern starrte sie stumpf vor sich hin. Sie sah plötzlich sehr alt aus.
„Die Richter und die gesamte Menschheit werden mich verurteilen", murmelte sie leise. „Alle werden mich verachten und niemand wird begreifen, daß ich nur das Beste wollte."
Claremont wollte etwas sagen, aber er fühlte, daß es nichts mehr zu sagen gab. Konnte oder durfte man eine Frau trösten, die in der Verwirrung ihrer Gefühle soweit gegangen war, zwei Menschen zu töten? Er blickte auf die Uhr. Es wäre schön, jetzt schlafen zu können und zu vergessen, welche Verbrechen aus mißverstandener Liebe erwachsen konnten. Aber die Nacht hatte für ihn erst begonnen. Es gab noch so viele Fragen zu klären... die Herkunft des Messers, den Verbleib der Pistole, den Ablauf des Mordes an Deila Glyne... Hunderte von Fragen, die einer Antwort bedurften, ehe die Akte dem District Attorney zugestellt werden konnte. Und ein großer Teil dieser Arbeit mußte noch in dieser Nacht geleistet werden.
„Kommen Sie", sagte er. „Wir müssen gehen."
Die Frau erhob sich. Schweigend ging sie an ihm vorüber zur Tür. Er folgte ihr und knipste im Wohnzimmer das Licht aus. In dem Augenblick, als er in dem dunklen Flur nach dem Schalter griff, spürte er dicht neben sich einen Luftzug. Er hob instinktiv den Arm, um sich gegen das Drohende, Unbekannte zu schützen, aber im gleichen Moment traf ihn ein stumpfer Gegenstand an der Schläfe.
Einmal, und noch einmal...
Wie durch einen zähen Nebel hörte er den erschreckten, schrillen Aufschrei der Frau.
Dann war es ihm, als stürze er in einen tiefen, endlosen Brunnen...
*
Als er mit brummendem Schädel erwachte, lag er auf einem harten, unbequemen Klappbett in einem großen, zellenähnlichen Raum, dessen Decke gekrümmt war und der keine Fenster hatte. Außer dem Bett befanden sich nur noch ein Stuhl und eine graue Kiste darin. Er richtete sich auf und faßte an seinen Kopf. Langsam kam die Erinnerung zurück. Die Dunkelheit des Flurs, der plötzliche Luftzug und dann der Schlag gegen die Schläfe...
An der gekrümmten Decke brannte eine nackte Glühbirne. Ein leises Summen gab zu verstehen, daß sich ganz in der Nähe ein Aggregat befinden mußte, das die Stromleitung speiste. Dieser Umstand ließ vermuten, daß er sich wahrscheinlich außerhalb New Yorks befand, irgendwo in einer verlassenen Gegend, wo es keine
Weitere Kostenlose Bücher