Der Herr der Falken - Schlucht
gestorben?«
Cleve schüttelte nur den Kopf.
»Als kleiner Junge hast du viel Zeit am Südufer beim Wasserfall verbracht.«
»Ich war sehr klein, als ich niedergeschlagen wurde«, sagte Cleve und blickte ins Feuer. Der süße Duft des Mets stieg ihm in die Nase. Cayman hatte ihn gebraut. Ihr Met war ebenso gut wie Uttas. »Als ich mich wieder an alles erinnert habe, hielt ich dich für den Täter. Heute weiß ich, daß ich mich geirrt habe.«
Varrick streckte seine Beine aus und betrachtete das edle Leder seiner Stiefel, das ebenso schwarz gefärbt war wie seine Hose. Der Burra hing an seinem Gürtel. Sein Hemd mit den weit geschnittenen Ärmeln war aus feinster Wolle. Wie immer war er ganz in Schwarz gekleidet. »Ich weiß, wer dich töten wollte«, sagte er nach einer Weile. »Kein anderer wäre fähig gewesen, eine solche Untat zu begehen. Ich hatte gehofft, du würdest nicht danach fragen. Ich wollte dir noch mehr Leid ersparen.«
»Wer war es?«
Varrick blickte seinen Sohn unverwandt an. »Dein Bruder Ethar, so leid es mir tut. Er war vierzehn, als er an deinen Augen erkannte, daß du nicht der Sohn seines Vaters bist. Er wußte, daß du mein Sohn bist. Den Mädchen ist das nie aufgefallen. Von diesem Augenblick haßte er dich, wie er auch mich haßte.«
Cleve schüttelte den Kopf. »Nein«, entgegnete er heiser. »Nicht Ethar. Ich habe ihn verehrt. Er zeigte mir nie seine Abneigung, niemals.«
»Er wollte dich umbringen, bald nachdem er die Wahrheit herausgefunden hatte. Mich hätte er noch lieber tot gesehen, doch die Chance bot sich ihm nicht. Der Mordanschlag an dir mißlang glücklicherweise. Es tut mir unendlich leid, daß du fünfzehn Jahre als Sklave leben mußtest. Unvorstellbar, was du in dieser langen Zeit durchgestanden hast. Du hast viele Narben, Cleve, nicht nur im Gesicht. Narben, die niemand sieht. Aber jetzt ist es vorbei. Du bist wieder daheim. Du bist in Sicherheit.«
Cleve dachte an die fünfzehn bitteren Jahre seines Leidensweges, an die verschiedenen Herren, die ihm das Leben zur Hölle gemacht hatten, und an den einen freundlichen alten Mann, der ihm Geschichten erzählte und ihm gutes Essen gab.
Dann starb der Alte, und Cleve wurde an einen Mann verkauft, der ein ausgemachter Schweinehund war. All die Schreckensjahre lagen nun hinter ihm. Sein Vater hatte ihm versichert, er sei in Sicherheit. Er dachte an Athols Überfall. Er hatte geglaubt, Varrick werde Athol zur Rechenschaft ziehen. »Ethar soll im See ertrunken sein.«
Varrick beobachtete die dünne Rauchfahne, die vom Herd aufstieg. »Ja«, bestätigte er. »So war es.«
Natürlich hatte Varrick ihn getötet für das, was er seinem kleinen Sohn angetan hatte. In all den Jahren hatte Cleve keinen Zweifel daran gehabt, wer versucht hatte, ihn zu töten. Für ihn war sein vermeintlicher Stiefvater Varrick der Täter, und gegen ihn richtete sich all sein Haß. Ethar war vor Jahren von Varrick getötet worden. Vermutlich schuldete er seinem Vater Dank für diesen Vergeltungsakt. Doch er sah sich nicht imstande, ein Gefühl des Dankes aufzubringen. Ethar war sein Halbbruder, und er war so jung. Cleve war ein fünfjähriger Junge, zu jung um als Zielscheibe für Ethars Rache zu dienen. Er versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Es war alles so lange her. Er konnte sich nicht mehr an das Gesicht seines Bruders erinnern.
Er blickte seinen Vater an, der schweigend auf seinem hohen Stuhl saß, und dessen lange, weiße Hände reglos auf den geschnitzten Armlehnen ruhten. Er konnte seinem Vater in allem vertrauen, außer in Dingen, die Chessa betrafen. Wenn es um Chessa ging, konnte er keinem Mann vertrauen.
»Du wirst bald wieder Vater«, sagte Varrick endlich.
»Ja«, entgegnete Cleve ohne Zögern.
»Sie leidet nicht unter Übelkeit.«
»Noch nicht. Es sind die ersten Wochen. Kiris Mutter mußte sich ständig übergeben.« Er lächelte seinen Vater an. »Warum hat Chessa es dir gesagt?«
»Ich bin ihr Schwiegervater. Ich freue mich, daß ihr mir einen Enkel schenkt.«
Er war ein Lügner, und er war glatt wie ein vom Wasser ausgewaschener Stein. »Ich würde am liebsten heute mit dem Bau meines Hauses beginnen. Später kann Athol dort leben.«
»Und du, Chessa und eure Kinder zieht nach meinem Tod in die Festung?«
»Das ist der Lauf der Welt.« Cleve hob den Kopf und lächelte Chessa zu, die auf ihn zuschritt, ihm einen Becher Met reichte und ihre Hand auf seine Schulter legte. Er spürte ihre Wärme, ihre
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