Der Herr der Falken - Schlucht
Gesicht vor, wenn sie ihm das eröffnete und erkannte, daß sie sich sozusagen ihr eigenes Grab geschaufelt hatte. Vor wenigen Tagen noch war ihr der Einfall glänzend erschienen. Keine Jungfrau zu sein bedeutete, daß Wilhelm sie abwies, und daß sie für Cleve frei wäre, der über ihre Unberührtheit beglückt wäre, wenn sie endlich zueinander fanden.
Nun würde es ganz anders kommen. Wenn er herausfand, daß sie gelogen hatte, würde er sie für ebenso schlecht und verlogen halten wie Sarla, und er würde sie verachten.
Merrik, Cleve und alle zwanzig Männer von Malverne stachen im Morgengrauen in See. Die Männer der Habichtsinsel und alle Frauen versammelten sich zum Abschied auf der Mole. Chessa, Laren und Mirana standen zusammen, als die Männer das Kriegsschiff mit Proviant beluden. Entti reichte Merrik einen großen Lederbeutel mit Bier. »Gib Ragnor nichts davon ab. Es ist für den ersten Abend gedacht, nachdem ihr die drei Kerle losgeworden seid und York den Rücken gekehrt habt.«
Die alte Alna verabschiedete sich von ihrem Schiffsführer Torric, tätschelte seine Hände und krächzte: »Ja, mein hübscher Junge. Du hättest um mich gekämpft. Ich war schöner als all die schnatternden Gänschen.«
Torric entgegnete: »Aber Alna, wenn du je so schön warst, dann hätte mein Großvater um dich gekämpft, und ich wäre vielleicht dein Enkel.«
Sie zog ihm das Ohr lang und krächzte: »Halt das Bein schön gestreckt, dann heilt es schneller. Und nimm diesen Trunk.« Sie reichte ihm ein Fläschchen. »Wenn du nicht fort müßtest, mein hübscher Junge, gäbe ich dir ein zweites Fläschchen mit einem Liebestrank. Ein Schluck davon, und du verliebst dich in deine eigene Großmutter.« Sie konnte sich vor Lachen kaum halten, und Torric warf Merrik einen verzweifelten Blick zu, der nur grinste: »Die alte Alna ist ein Geschenk der Götter, Torric.«
Laren lächelte ihren Gemahl still an. Sie hatte ihn bereits zehnmal ermahnt, Ragnor sorgsam zu bewachen, da sie dem Schurken nicht über den Weg traute. Kerek stellte eine noch größere Gefahr dar, da er von dem Gedanken besessen war, Chessa mit Ragnor verheiraten zu müssen, um das Danelagh zu retten.
Cleve stand ein wenig abseits und redete mit seiner Tochter. Er küßte sie und sagte ihr, sie solle zu ihrer Tante Laren gehen.
Dann gingen die Männer an Bord. Kurze Zeit später war das blauweiß gestreifte viereckige Segel nur noch ein Punkt am Horizont. Die Männer der Habichtsinsel holten ihre Waffen und Gerätschaften und gingen zur Jagd.
»Seht euch die Möwen an«, sagte Mirana. »Sie kämpfen gegen die Windräder. Sie steigen hoch und schießen senkrecht in die Tiefe und machen alle anderen Vögel damit verrückt.«
Chessa schaute sie an, als zweifle sie ihrem Verstand.
»Verzeih, Chessa, ich habe schon als Kind eine Vorliebe für Vögel gehabt. Das heißt nicht, daß ich deine Gefühle nicht respektiere.«
»Du bist keine Prinzessin wie ich«, antwortete Chessa. »Wie kannst du wissen, was ich fühle?«
Mirana lachte. »So gefällst du mir besser. Cleve wird zurückkommen. Und dann werden wir weitersehen.«
Chessa schaute in die Gesichter der Frauen und seufzte. »Da gibt es leider noch etwas.«
Mirana beobachtete aufmerksam zwei Brachvögel, die flink vor einer Brandungswelle flohen. »Ich glaube, ich will es gar nicht hören.«
»Ich bin nicht schwanger.«
»Hattest du deine Monatsblutung?«
»Ja. Aber es kommt noch schlimmer.«
»Was gibt's?« fragte Laren und trat auf die beiden zu.
»Sie hatte ihre Monatsblutung«, erklärte Mirana. »Sie ist nicht von Ragnor schwanger.«
»Darum geht es nicht.«
»Natürlich geht es darum«, wiedersprach Laren. »Wenn du einmal mit Cleve verheiratet bist, mußt du dir keine Sorgen machen, daß du ein Kind von Ragnor bekommst.«
Chessa blickte von Mirana zu Laren und dann zu den anderen Frauen, die in einem Grüppchen in der Nähe standen. Mit einem tiefen Seufzer brachte sie heraus: »Ich bin unberührt. Ich habe gelogen. Ich hoffte, Wilhelm nicht heiraten zu müssen, wenn ich behaupte, nicht mehr unschuldig zu sein. Das war wohl ein Irrtum.«
»Aber das ist doch wunderbar«, sagte Utta, und dann
weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. »Ach du meine Güte«, flüsterte sie.
»Ja, das gibt ein neues Problem«, sagte Entti. »Wenn Cleve weiß, daß du noch Jungfrau bist, bringt er dich nach Rouen und du wirst Wilhelms Braut, eh du weißt, wie dir geschieht. Was meinst du dazu, Amma?«
Die
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