Der Herr der Falken - Schlucht
Herzog Rollos Gesandter ist, sagt er ihr auf den Tag genau, wie lange er wegbleibt. Einige Male verspätete er sich, und die Kleine war bei seiner Ankunft in Malverne bleich und abgemagert, lustlos und schwach. Wir machten uns jedesmal große Sorgen. Niemand konnte ihr helfen, obwohl wir alles versucht haben.
Einmal sagte er ihr, er komme am achten Tag zurück, und sie zählte die Tage. Bei ihren Spielsachen bewahrt sie Holzstöckchen auf. Als sie das achte Stöckchen beiseite gelegt hatte, und er nicht zurückkam, verfiel sie in tiefe Trauer. Ich versuchte sie zu trösten, doch sie war davon überzeugt, daß er nie wieder zurückkommen würde. Ich nahm heimlich ein Stöckchen weg, doch sie bemerkte es und legte es wieder dazu.«
»Du wirst dich gewundert haben, warum er die Kleine auf Reisen mitnimmt. Die Fahrt nach Schottland ist kein ungefährliches Unternehmen. Keiner von uns würde ein Kind mitnehmen. Aber Kiri würde sterben, wenn er sie zurückließe. Niemand von uns weiß, wie wir sie trösten können.«
»Was hat Sarla noch getan, Laren, außer daß sie versucht hat, Cleve umzubringen?«
»Sie blieb bis nach Kiris Geburt in Malverne. Danach beabsichtigte Merrik, sie auf den Hof ihrer Eltern im Bergental zurückzubringen. Ihr Vater schickte ein Dutzend Männer zu ihrer Begleitung. Sarla wollte Cleve das Kind nicht überlassen und raubte es. Als Cleve sie verfolgte, schrie sie, er wolle sie und ihr Kind umbringen, weil er sie hasse und beschwor die Männer, sie zu beschützen. Plötzlich rannte sie mit Kiri los und drohte, sich von einem Felsen zu stürzen. Cleve gelang es im letzten Augenblick, das Kind an sich zu reißen, bevor Sarla sich in den Tod stürzte. Es war eine furchtbare Tragödie. Nach Sarlas Tod hofften wir alle, daß er irgendwann darüber hinwegkommen würde. Er liebt Kiri über alles. Sollte etwas in York schiefgegangen sein, wird er alles daransetzen, um zurückzukommen, da er weiß, daß Kiri ohne ihn stirbt.«
Chessa blickte zu dem kleinen Mädchen hinüber, das neben Erna am Webstuhl saß. Erna mit ihrem verkümmerten linken Arm redete auf das Kind ein, lachte und scherzte mit ihr, als bemerke sie nicht, daß Kiri ihr keine Antwort gab und überhaupt nicht reagierte. Auch Gunleik, Ernas Ehemann, bemühte sich redlich, das Interesse des Kindes zu wecken. Er schnitzte ein Messer für sie, das sie wortlos entgegennahm. Die Frauen schmeichelten ihr, steckten ihr Leckereien zu, die sie aber kopfschüttelnd ablehnte. Die Männer schaukelten sie auf den Knien und erzählten ihr Geschichten. Kerzog zupfte sie am Rock und versuchte sie zum Herd zu ziehen. Nichts hatte Erfolg.
Ein weiterer Tag verging ohne ein Zeichen von Merriks Kriegsschiff. Die Abfahrt nach York war für den nächsten Tag geplant. Spät nachts wütete jedoch ein starkes Unwetter, und so war kein Drandenken, die Reise am Morgen anzutreten.
Kiri hielt den Blick starr auf den gestampften Lehmboden gesenkt. Sie nahm eines ihrer Holzstäbchen und zerbrach es in kleine Stücke.
Am nächsten Abend hatte Chessa genug. Sie ging in die Kammer, in der zehn Kinder wie die Heringe aneinander geschmiegt in einem Bett schliefen, und zog Kiri heraus, worauf die anderen die entstehende Lücke sofort schlossen. Sie trug das schlafende Kind in den großen Raum, legte sich mit ihr auf ihr Lager und breitete die große Decke über beide.
Mitten in der Nacht spürte Chessa im Halbschlaf einen großen, wannen Körper, der sich an ihren Rücken schmiegte. Sie erstarrte, doch dann schlabberte ihr eine große Zunge ins
Gesicht. Sie seufzte erleichtert. Kerzog hatte es sich bei ihr gemütlich gemacht.
»Warum bin ich bei dir, Chessa?«
Sie öffnete die Augen. Es wurde gerade langsam hell. Noch schliefen alle.
»Ich finde, du hast jetzt genug gehungert. Alle sind halb wahnsinnig vor Sorgen um dich. So kann das nicht weitergehen. Ich habe beschlossen, daß du mich von nun an als deinen zweiten Vater betrachtest. Immer wenn dein Papa nicht bei dir sein kann, bin ich bei dir. Heute ißt du Uttas Haferbrei. Danach machen wir beide einen Spaziergang. Wir spielen Fangen, und ich werde dir ein Lied beibringen, das die Bauern in Irland singen. Es handelt von einem Schwein, das seinem Herrn das Leben gerettet hat und deshalb bei ihm in der Kammer schlafen durfte. Wir nehmen uns etwas zu essen mit und lassen es uns an der Ostklippe schmecken.«
»Du bist nicht mein Papa. Du bist ein Mädchen.«
»Das macht nichts. Du kannst mich trotzdem Papa nennen,
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