Der Herr der Falken - Schlucht
Stuhl, einer Kohlenwanne und einer großen Truhe am Fußende des Bettes. Der Raum hatte drei Fenster und eine schmale Tür an der gegenüberliegenden Wand. Chessa durchquerte den Raum und öffnete die Tür, die in einen kleinen, von hohen Mauern umgebenen Garten führte. Sie blickte auf eine makellos gepflegte Blütenpracht. Sie erkannte Lilien, Margeriten, Fingerhut und Rittersporn. Einen kleinen Weiher in der Mitte des Gärtleins säumten die schönsten Wasserlilien, die Chessa je gesehen hatte. Die hohen Steinmauern waren mit Efeu und wildem Wein bewachsen.
Sie hatte ein wahres Refugium betreten. Chessa atmete die milde, würzige Morgenluft tief ein.
»Hast du gut geschlafen?«
Chessa wandte sich um. Vor ihr stand die Königin und hielt eine leuchtend rote Rose in der Hand.
»Nein. Wie könnte ich? Ich bin nicht freiwillig hier.«
»Willst du nach Dublin zurückkehren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein Zuhause ist bei einem Mann namens Cleve. Wo er ist, will auch ich sein.«
Die Königin blinzelte in die Sonne und winkte Chessa, ihr zu folgen. In einer schattigen Ecke des Gartens stand eine Steinbank unter einem alten knorrigen Birnbaum.
Die Königin hielt ihr die Rose hin. »Rieche daran. Duftet sie nicht herrlich?«
Chessa steckte ihre Nase in den Blütenkelch. »Sie duftet wie süßer Honig. Ich habe nie ein leuchtenderes Rot gesehen.«
Die Königin lächelte. »Ich habe sie selbst gezüchtet. Ich kreuze immer wieder verschiedene Sorten miteinander und erziele damit manch erstaunliches Ergebnis, wie du an diesem Exemplar sehen kannst.«
»Ich habe noch nie davon gehört.«
»Da bist du nicht die einzige. Nun sieh mich nicht an, als seien mir zwei Köpfe gewachsen.«
»Ich frage mich nur, wo die Frau geblieben ist, die ich gestern kennengelernt habe. Ihr seid völlig verändert.«
»Ich bin eine vielschichtige Persönlichkeit, Prinzessin. Das muß so sein, sonst könnte ich nicht überleben.«
»Bitte nennt mich Chessa. Ich bin keine Prinzessin. Ich wünschte, der König würde das begreifen und mich gehen lassen.«
»Er wird dich nicht gehen lassen, Chessa. Hast du mir die Rolle geglaubt, die ich gestern abend spielte?«
Chessa nickte.
»Gut. Manchmal vergesse ich mich, und der König wird mißtrauisch. Wie ich sehe, begreifst du nichts von dem, was hier vorgeht. Hat Kerek dich nicht aufgeklärt?«
»Nein. Gestern habt Ihr so getan, als sei der König schwachsinnig und Ragnor ein Narr, der er tatsächlich ist. Ich hatte den Eindruck, Ihr wollt mit beiden nichts zu tun haben. Ich hielt auch Euch nicht recht bei Verstand, um ehrlich zu sein.«
Die Königin tätschelte ihre Hand. »Kerek hat mich davon überzeugt, daß du die Rettung des Danelagh bist. Dabei bist du nur ein junges Mädchen. Und als ich dich gestern sah, hielt ich dich zunächst für töricht in deiner sinnlosen Tapferkeit. Du hast dir Frechheiten herausgenommen, die ich im Traum nicht wagen würde, nur um zu sehen, wie die Menschen, in deren Gewalt du dich befindest, reagieren. Und du hast dich für Kerek eingesetzt, einen Mann, den du eigentlich zutiefst hassen müßtest. Er hat dich zweimal überlistet, und dennoch hast du Ragnor in die Hand gestochen, damit er Kerek freigibt. Der König durfte dich berühren. Du bist nicht zurückgewichen und hast dich nicht vor Abscheu geschüttelt, als dieser Lustgreis dich begrapscht hat. Du wolltest herausfinden, was er denkt und wie er sich verhält. Du hast sehr klug gehandelt. Du hast erkannt, daß der König der Gefährliche ist. Mit zunehmendem Alter vergißt er seinen Haß gegen die Menschen, und das ist ein Segen für alle in seiner Umgebung. Ragnor ist ein verwöhnter Junge, der ständig schmollt. Seltsamerweise legt er gelegentlich auch Züge von Charme und Klugheit an den Tag.«
»Ihr habt mich gesehen, wie Ihr mich sehen wollt, Hoheit. Ich bin nur ein einfaches, junges Mädchen, weiter nichts. Ich liebe einen anderen Mann. Ich will nicht hier sein. Ich will Ragnor nicht heiraten. Ich habe diese Züge an Ragnor bemerkt, doch sie währen nur kurz wie ein Blitz, der über den Himmel zuckt.«
Die Königin lächelte.
»Hoheit«, fuhr Chessa bedächtig fort. »Wer ist der wahre Herrscher über das Danelagh?«
»Du hast ihn gestern kennengelernt. Ein zahnloser, übelriechender, gewissenloser, alter Mann.«
»Warum stehen Wachen vor Eurer Tür? Warum sind diese Mauern so hoch? Ich habe nach einem Gartentor Ausschau gehalten, kann aber keines sehen.«
»Ich bin eine
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