Der Herr der Falken - Schlucht
mußte klein beigeben. Die Gruppe verließ das Schiff und machte sich auf den Weg zu den Palisadentoren.
Von der innen an der Umzäunung entlangführenden Rampe rief ein alter Mann herunter und fragte nach ihrem Begehr. Cleve rief hinauf: »Ich habe Nachrichten für Lord Varrick. Wir sind mit einem Kriegsschiff und einem Handelsschiff gekommen, die an der Mole liegen. Dort warten unsere Leute. Wir kommen in friedlicher Absicht. Wir sind nur zwei Männer, zwei Frauen und ein Kind. Bring uns zu Lord Varrick.«
Der Alte spuckte aus, nickte und öffnete das Tor. Sogleich tauchten vier in rote Hirschfelle gewandete wilde Gestalten auf, die kleiner waren als Cleve und Merrik, dunkelhaarig und schwarzäugig. Ihre Gesichter waren mit blauen Vierecken und Kreisen bemalt. Sie sahen sehr furchterregend aus.
Kiri umklammerte Cleves Bein. »Papa, das sind Ungeheuer.« Sie barg ihr Gesicht in seiner Kniekehle. »Sie schneiden uns die Finger ab und braten sie über dem Feuer.«
Einer der Männer lachte, und auch dieses Lachen klang fürchterlich. »Nein, kleines Mädchen, wir sind keine Ungeheuer, nur für unsere Feinde. Kommt, wir bringen euch zu Lord Varrick. Ob er euch empfängt, ist eine andere Sache.«
Zwei der Kerle gingen voran, die beiden anderen hinter ihnen. Cleves Messer steckte in seinem Gürtel, Schwert und Streitaxt hingen an seiner Seite. Merrik war gleichermaßen bewaffnet. Keiner der Begleiter hatte sie aufgefordert, die Waffen abzulegen, da eine Waffe fester Bestandteil der Kleidung eines Mannes war. Chessa und Laren trugen jede ein Messer am Bein befestigt. Davon wußten ihre Ehemänner nichts, und die Frauen waren sich darin einig, daß es auch besser so sei.
Der Weg stieg stetig an bis zur Festung auf der Hügelkuppe. Chessa fröstelte mit jedem Schritt mehr, obwohl die Sonne vom Himmel brannte. Die Kälte kam aus ihrem Innern.
Der erste Wachtposten wandte sich an der Eingangspforte um: »Wartet hier. Haltet das Kind, sonst wird es von den Hunden angefallen.«
Cleve nahm Kiri auf den Arm. Sie hatte Angst, blieb aber mucksmäuschenstill. Er war stolz auf sie.
Sie warteten vor dem großen, im Lauf der Jahre dunkelgrau verwitterten Eichenportal, dessen schwarze Eisenbeschläge uralt wirkten. Hatte Cleves Vater die Festung gebaut? Oder sein Großvater? Wieder tauchte ein Erinnerungsfetzen vor Cleves innerem Auge auf. Leute strömten herbei, jeder trug etwas, alle redeten, lachten, schrien, dazwischen hörte man Hundegebell und Kindergeschrei. Dann erlosch die Erinnerung. Und er stand wieder vor der unheimlich und kalt wirkenden Festung, von der ein tödliches Schweigen ausging. Auf dem Weg hatten sie Knechte und Mägde auf den Feldern arbeiten gesehen, von denen keiner geredet hatte. Manche der männlichen Sklaven waren blonde, hochgewachsene Wikinger, andere wie ihre vier Begleiter, kurzbeinig und dunkel, und die Gesichter mit blauen Zeichen bemalt. Sie kamen an Frauen vorbei, die über Waschtrögen gebeugt standen, andere fädelten Fische auf lange Stangen, um sie für den kommenden Winter zu trocknen. Es herrschte geschäftige Betriebsamkeit, aber niemand redete. Es war unheimlich. Kiri schauderte auf Cleves Arm.
»Keine Angst, Liebling«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Der wilde Kerl öffnete das schwere Eichentor. »Lord Varrick empfängt euch.«
Die Gruppe betrat das riesige Haus des Schweigens. Am Herdfeuer standen Frauen und rührten mit großen Kochlöffeln in Kesseln und Töpfen. An zwei Webstühlen saßen Frauen und bewegten klappernd die Schiffchen. Etwa ein Dutzend Männer putzten die Waffen. Auch hier herrschte völlige Stille. Am Ende der großen Halle flutete durch zwei große geöffnete
Fensterläden Licht ins Dunkel. In diesem grellen Lichtbündel stand ein schwarz gekleideter Mann auf einem Podium. Unbeweglich blickte er ihnen entgegen, eine dunkle Silhouette im gleißenden Sonnenlicht. Er stand reglos, wirkte überirdisch, angsteinflößend wie eine Geisterscheinung. Kiri wimmerte leise und barg ihr Gesicht am Hals ihres Vaters.
Der Mann bewegte sich immer noch nicht. Niemand redete. Alles schien den Atem anzuhalten.
»Kommt näher!« befahl die unheimliche Gestalt nun mit tiefer, vollklingender Stimme, die bis in den letzten Winkel der Halle drang.
Cleve übergab Kiri an Chessa. »Bleib bei deinem zweiten Papa. Hab keine Angst. Er will uns mit seinem Spiel mit Licht und Schatten nur beeindrucken.«
Cleve ging auf den Riesen zu, der breitbeinig auf dem Podium stand. »Welch ein
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