Der Herr der Lüfte
Titelseiten. Natürlich waren Name und Gesellschaft des Schiffes genannt. Die kürzlich ins Leben gerufene Sonderluftpolizei seiner Majestät wurde erwähnt. (»Ist es das, was wir von den Leuten erwarten dürfen, die zu unserem Schutz berufen sind?« fragte eine Zeitung.) Passagiere waren interviewt worden, und man zitierte eine erste, nicht offizielle Erklärung vom Sydneyer Büro der Schiffahrtsgesellschaft. Ich sagte gegenüber der Presse natürlich kein Wort, was einige der Zeitungen als ein Eingeständnis auslegten, daß ich grundlos auf Reagan losgegangen war und ihn zu töten versucht hatte. Dann erhielt ich ein Telegramm von meinem Vorgesetzten aus London: SOFORT ZURÜCKKEHREN.
Niedergeschlagenheit befiel mich und hielt sich hartnäckig und kalt, und auf der ganzen Heimreise nach London an Bord des Kriegsschiffes Relentless bedrückten mich die düstersten Gedanken. Was die Armee betraf, gab es keinerlei Entschuldigung für mein Verhalten. Ich wußte, daß ich vor ein Kriegsgericht gestellt und vermutlich entlassen würde. Das war keine angenehme Aussicht.
In London angekommen wurde ich sofort zum SLP-Hauptquartier neben dem kleinen Militäraeropark in Limehouse gebracht. Ich wurde in einer Kaserne in Gewahrsam genommen, bis die Entscheidung meines Vorgesetzten und des Kriegsministeriums fiel, was mit mir geschehen sollte.
Wie sich herausstellte, hatte man Reagan überredet, seine Anzeigen gegen jedermann fallen zu lassen und zuzugeben, daß er mich ernsthaft provoziert hatte; trotzdem hatte ich mich natürlich unmöglich benommen, und ein Kriegsgerichtsprozeß stand mir bevor.
Mehrere Tage nachdem ich von Reagans Entscheidung erfahren hatte, wurde ich zum Büro des Kommandeurs bestellt, wo
man mich Platz nehmen hieß. Generalmajor Fry war ein anständiger Typ und ganz von der alten Schule. Er verstand, was geschehen war, erklärte mir jedoch frei heraus seinen Standpunkt: »Schauen Sie, Bastable, ich weiß, was Sie durchgemacht haben. Erst der Gedächtnisverlust und nun dieser… na dieser Ausbruch von Ihnen, wenn Sie so wollen. Wutanfall, wie? Ich weiß. Aber Sie verstehen, daß wir nicht sicher sein können, ob sich das nicht wiederholt. Ich meine, der alte Hirnkasten und all das - ein bißchen durcheinander, was?«
Ich lächelte ihn schmerzlich an, wie ich mich erinnere. »Sie meinen, ich sei verrückt, Sir?«
»Nein, nein, nein, natürlich nicht. Sagen wir, nervös. Jedenfalls, kurz und gut, Bastable: Ich möchte Ihren Abschied.«
Er hüstelte verlegen und bot mir eine Zigarre an, ohne mich anzuschauen. Ich lehnte ab.
Darauf stand ich auf und salutierte. »Ich verstehe vollkommen, Sir, und ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen. Es ist höchst entgegenkommend von Ihnen, Sir. Natürlich werde ich meinen Abschied einreichen. Ist Ihnen morgen recht, Sir?«
»Schön. Lassen Sie sich Zeit. Tut mir leid, Sie zu verlieren. Viel Glück, Bastable. Ich schätze, Sie werden sich keine Sorgen machen müssen, daß Macaphee etwas unternimmt. Kapitän Harding hat sich bei den Inhabern für Sie eingesetzt. Die anderen Offiziere vermutlich auch.«
»Danke, daß Sie mich das haben wissen lassen.«
»Nichts zu danken. Leben Sie wohl, Bastable!« Er stand auf und schüttelte mir die Hand. »Ach, übrigens, Ihr Bruder möchte Sie sprechen. Man hat mich benachrichtigt. Er will Sie heute abend im Königlichen Aeronauten-Club treffen.«
»Mein Bruder, Sir?«
»Wußten Sie nicht, daß Sie einen haben?«
Ich hatte einen Bruder. Drei sogar. Aber die hatte ich im Jahr 1902 zurückgelassen.
Im Gefühl, völlig den Verstand verloren zu haben, verließ ich das Amtszimmer, kehrte in mein Quartier zurück, packte meine paar Habseligkeiten in eine Tasche, zog mich in Zivil um und nahm einen elektrischen Hansom zum Picadilly und zum Königlichen Aeronauten-Club.
Warum sollte irgend jemand behaupten, mein Bruder zu sein? Vermutlich gab es eine einfache Erklärung. Natürlich ein Irrtum, aber ganz sicher sein konnte ich nicht.
4 Ein Bohémien-Bruder
Als ich mich in dem weichgefederten Wagen zurücklehnte, starrte ich aus dem Fenster und versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Seit dem Zwischenfall mit Reagan war ich wie betäubt, und erst jetzt, als ich meine Quartiere verließ, begann ich, sämtliche Folgen meiner Tat zu begreifen. Mir wurde ebenfalls bewußt, daß ich alles in allem recht glimpflich davongekommen war. Doch es schien, als seien meine Bemühungen, von der Gesellschaft des Jahres 1974 akzeptiert zu werden,
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