Der Herr der Ringe
begannen die roten Blüten an den Bohnen zu leuchten.
Pippin schaute aus dem Westfenster hinunter in ein Nebelmeer. Der Wald war hinter Regenschleiern verborgen. Es war, als ob man von oben auf eine abschüssige Wolkendecke schaute. Da war eine Senke oder Rinne, wo sich der Nebel in viele Schleier und Schwaden teilte: das Tal der Weidenwinde.Der Fluss strömte linker Hand den Berg hinunter und verschwand in den weißen Schatten. Nah am Haus war ein Blumengarten und eine mit einem silbernen Netz überzogene, gestutzte Hecke, und dahinter graues, geschnittenes Gras, fahl schimmernd vor lauter Tautropfen. Es war keine Weide zu sehen.
»Guten Morgen, liebe Freunde!«, rief Tom und machte das Ostfenster weit auf. Kühle Luft strömte herein; sie roch nach Regen. »Die Sonne wird sich heute nicht viel sehen lassen, glaube ich. Ich bin schon weit gelaufen und auf den Berggipfel gesprungen, seit der Morgen graute, habe nach Wind und Wetter geschnuppert, nasses Gras unter den Füßen und nassen Himmel über mir. Goldbeere habe ich geweckt, als ich unter dem Fenster sang; aber nichts weckt Hobbit-Leute am frühen Morgen. Nachts wacht das kleine Volk in der Dunkelheit auf, und wenn es hell geworden ist, schläft es! Dong-long! Wacht nun auf, meine fröhlichen Freunde! Vergesst die nächtlichen Geräusche! Dong-long, dongelong, Kameraden! Wenn ihr bald kommt, findet ihr Frühstück auf dem Tisch. Kommt ihr spät, gibt’s Gras und Regenwasser!«
Obwohl Toms Drohung nicht sehr ernst klang, kamen die Hobbits selbstverständlich bald und verließen den Tisch erst wieder, als er schon ziemlich leer aussah. Weder Tom noch Goldbeere waren da. Tom hörte man im Haus herumwirtschaften, in der Küche klappern, die Treppen hinauf- und hinunterspringen und draußen singen, mal hier, mal dort. Das Zimmer schaute nach Westen auf das nebelverhangene Tal, und das Fenster war offen. Wasser tropfte von dem strohgedeckten Dachvorsprung. Ehe sie mit dem Frühstück fertig waren, hatten sich die Wolken zu einer geschlossenen Decke zusammengezogen, und ein richtiger grauer Regen fiel sanft und stetig. Er war wie ein dichter Vorhang, der den Wald völlig verhüllte.
Als sie aus dem Fenster schauten, drang zu ihnen sanft, als strömte sie mit dem Regen herab, die klare Stimme von Goldbeere, die über ihnen sang. Sie konnten wenig Wörter verstehen, aber sie erkannten, dass es ein Regenlied war, so süß wie Schauer auf trockene Berge, und es erzählte die Geschichte eines Flusses von der Quelle im Hochland bis zum Meer weit drunten. Die Hobbits lauschten voll Entzücken; und Frodo war im Grunde seines Herzens froh und pries das freundliche Wetter, weil es ihren Abschied verzögerte. Der Gedanke an den Aufbruch hatte von dem Augenblick, da er erwachte, schwer auf ihm gelastet; aber jetzt vermutete er, dass sie an diesem Tag nicht weitergehen würden.
Der Höhenwind blies beständig aus Westen, und tiefer hängende und nassere Wolken rollten heran und luden ihre Regenlast auf den kahlen Gipfeln der Höhen ab. Nichts war um das Haus herum zu sehen als strömendes Wasser. Frodo stand an der offenen Tür und sah zu, wie sich der kreidige Weg in einen kleinen Milchbach verwandelte und hinunter ins Tal plätscherte. TomBombadil kam um die Hausecke und schwenkte die Arme, als ob er den Regen abwehrte – und tatsächlich schien er, als er über die Schwelle sprang, trocken zu sein bis auf seine Stiefel. Er zog sie aus und stellte sie in die Kaminecke. Dann setzte er sich auf den größten Stuhl und rief die Hobbits zu sich.
»Heute ist Goldbeeres Waschtag«, sagte er, »und ihr Herbstgroßreinemachen. Zu nass für Hobbits – sie sollen ausruhen, so lange sie können! Es ist ein guter Tag für lange Erzählungen, für Fragen und Antworten, und so wird Tom mit dem Reden beginnen.«
Er erzählte ihnen dann viele bemerkenswerte Geschichten, manchmal so, als spräche er mit sich selbst, manchmal schaute er sie plötzlich mit seinen leuchtenden blauen Augen unter den dichten Brauen an. Oft fing er plötzlich an zu singen und stand dann auf und tanzte umher. Er erzählte ihnen von Bienen und Blumen, von den Eigenheiten der Bäume und der seltsamen Geschöpfe im Wald, von bösen Wesen und guten Wesen, freundlichen und unfreundlichen, grausamen und gütigen, und von Geheimnissen, verborgen unter Gestrüpp.
Während sie zuhörten, begannen sie das Leben im Wald zu verstehen, das so ganz anders war als ihr eigenes, ja sich geradezu als Fremdlinge zu
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