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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Altstadt. Und plötzlich stand er vor seinem Geburtshaus.
    Das mit der Stadtmauer verwachsene Gebäude erinnerte ihn an einen alten Baum, der vor langer Zeit aufgehört hatte zu blühen. Vom Fenster seiner Mansardenwohnung aus war es ihm oft wie ein versteinerter Riese vorgekommen, der unerwartet zu neuem Leben erwachen konnte. Jetzt hatte er das Gefühl, genau das sei geschehen. Er spürte, wie sich seine Anspannung löste, obwohl das Herz immer noch he f tig klopfte.
    Sämtliche Fensterläden waren zugenagelt. Natürlich hatte Manzini auch den Anstrich der Fassade nicht erneuert. Die hellgelbe Farbe war mehr denn je abgeblättert. Was Nico bis zu dieser Minute nicht mehr für möglich gehalten hätte, gelang ihm nun, nachdem er den Dämon seiner Vergange n heit besiegt hatte. Er stieg die zwei Stufen zur Tür empor, legte seine Hand auf die Mesusa und glaubte, obwohl das kaum möglich schien, in der Messingkapsel noch die Eri n nerung an seinen Vaters wahrzunehmen. Obwohl ihm i r gendwann auf der Strecke der letzten elf Jahre der Glaube an die Wirksamkeit des traditionellen Gebets abhanden gekommen war, murmelte er die vertrauten Worte.
    »Möge Gott mein Hinausgehen und mein Hineingehen behüten von nun und für immer.«
    Nach einem tiefen Atemzug drückte er die Klinke nieder.
    Jeder hatte ihm gesagt, dass sie verschlossen war.
    Er richtete seinen Sinn auf das grobschlächtige Schloss und flüsterte: »Komm mein Alter, dein kleiner Freund ist wieder da.« Ein kratzendes Geräusch kam aus der Tür. Beim zweiten Versuch, sie zu öffnen, leistete sie keinen Wiederstand mehr.
    Mit wachsweichen Knien betrat Nico den Flur. Er glaubte noch die Stelle zu erkennen, wo er sich als Zeuge einer E ruption von Gewalt in die Hosen gemacht hatte. Die Tür der Werkstatt war – wie damals – nur angelehnt. Mit ausg e strecktem Arm drückte er sie auf. Er musste sich am Tü r rahmen festklammern, weil er fürchtete andernfalls zusa m menzubrechen.
    Der Blutfleck auf den Dielen war noch deutlich auszum a chen, verblasst zwar, aber Nicos Gedächtnis frischte die rote Farbe auf. In der Werkstatt herrschte ein heilloses Durcheinander. Bis auf zwei Wanduhren, die von einer dicken Staubschicht bedeckt zerbrochen am Boden lagen, fehlten alle anderen. Offenbar hatten Manzini und seine Helfershelfer einen gewöhnlichen Raubmord vortäuschen wollen. Regale waren von den Wänden gerissen, der A r beitstisch und die Stühle umgeworfen. Alles weniger Wer t volle lag wie achtlos fallen gelassen ebenfalls auf den Di e len herum.
    Ganz hinten an der Wand sah Nico ein rotes Buch liegen. Er erkannte es sofort wieder. Rasch hob er es auf und pust e te die Staubschicht fort. Der papierene Teil des Halblede r einbands sah aus wie Marmor. Er klappte es auf. Das Tite l blatt war in schwarzer und roter Farbe gehalten.
     
    DANTE ALIGHIERI
     
    LA DIVINA COMMEDIA
     
    »Die Göttliche Komödie.« Sein Atem vermochte die Wo r te kaum über die Lippen zu heben. Eine kleine Zeile aus di e sem Buch hatte seinen Vater das Leben gekostet. Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht. Welches G e heimnis bargen diese Worte? Was hatte Manzinis Jä h zorn heraufbeschworen?
     
    Nico schlug das Buch wieder zu. Er würde es mitnehmen, nicht allein um das darin verborgene Rätsel zu lösen, so n dern noch aus einem anderen Grund.
    Ein letztes Mal ließ er den Blick durch die Werkstatt schweifen, dann kehrte er auf den Flur zurück. Obwohl seine Kraft fast schon erschöpft war, stieg er trotzdem die Treppe empor, um die anderen Räume des Hauses zu unte r suchen. Überall bot sich ihm dasselbe trostlose Bild der Verwüstung. Manzinis Leute hatten ganze Arbeit getan. Nico wusste nicht, was er sich von diesem Besuch erwartet hatte. Ein weiteres Indiz vielleicht, das auf den Mörder hi n deutete, oder eine innere Befreiung, die ihn endlich frei atmen ließ – er fühlte sich enttäuscht, deprimiert, unglüc k licher denn je.
    Mit dem Buch unterm Arm verließ er das Haus, in dem er sein halbes Leben zugebracht hatte, und er wusste, es würde ihm nie wieder ein Zuhause sein können. Nachdem er das plumpe Schloss überredet hatte, die Tür wieder zu verri e geln, lief er durch die schmale Via del Baluardo und über die Piazza Vittorio Emanuele III. zu dem Wandelgang, der an der Seeseite die alte Stadtmauer säumte. Er ließ die Al t stadt hinter sich, lief am Forte Sangallo vorbei und suchte sich eine kleine Bar, von der aus man die Leute am Strand beobachten

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