Der Herr der Unruhe
sie alle Juden erschlagen oder vertrieben haben.«
Bisher war Nico nur um seine Zieheltern besorgt gew e sen, aber der Meister hatte keinen Unterschied zwischen italienischen und anderen Juden gemacht. Wohl nicht ohne Grund, machte er sich widerstrebend klar. »Dann müssen wir eben alle von der Bildfläche verschwinden. Davide weiß bestimmt einen Rat. Notfalls bitte ich noch einmal Lorenzo um Hilfe.«
Auf Johans Stirn bildete sich eine steile Falte. »Ist das wirklich nötig? Der Papst war bisher erschreckend still, wenn es um die Verfolgung unserer Brüder und Schwestern ging.«
»Lorenzo gehört zwar dem Beraterstab von Pius XII. an, aber deshalb heißt er trotzdem nicht alles gut, was sein O berhaupt so tut, oder besser, was es nicht tut.«
»Na, meinetwegen.« Johan legte seiner Frau den Arm um die Schulter. Er sah müder aus denn je. »Zwar sag ich es nicht gerne Lea, aber ich hab mal wieder das Gefühl, dass wir auf verlorenem Posten stehen.«
Sie küsste ihn auf die Wange. »Ich weiß schon, mein Schatz. Wenn du meinst, dass wir uns in eine sichere Ste l lung zurückziehen sollten, dann tun wir es.«
Zwei Tage später marschierte die Wehrmacht in Rom ein, das sich zur »offenen Stadt« erklärt hatte. Die Schrecken des Bombardements vom 19. Juli waren noch zu frisch, um weitere Tote und Verletzte zu riskieren. Auch die unschät z baren Kulturgüter – ein Erbe der ganzen Menschheit – wol l te man schützen.
Dank Lorenzos Fürsprache hatten Johan und Lea Unte r schlupf im Souterrain eines heruntergekommenen Woh n hauses in der Via Dandolo gefunden; sie konnten also we i terhin in Trastevere wohnen bleiben. Das Gebäude gehörte dem Heiligen Stuhl, und auch der Mittvierziger im Erdg e schoss, ein gewisser Ugo Buitoni, der im Kurienamt für außerterritoriale Liegenschaften des Vatikans arbeitete, war ein Bürger ebenjenes Staates. So wie er sich für edle Tröp f chen begeistern konnte, erregte er sich über die Demüt i gung der Juden. Nicos Zieheltern freundeten sich schnell mit dem Beamten und seiner Ehefrau an.
Viele italienische Juden hofften noch, es werde so schlimm nicht kommen, und blieben vorerst in ihren Qua r tieren. Auch Meister Davide und seine Frau gehörten zu ihnen. Nico blieb zwar amtlich in seiner Wohnung an der Piazza Santa Maria in Trastevere gemeldet, aber auch er tauchte einige Tage nach dem Einmarsch der Deutschen unter – wenn auch aus anderem Grund.
Wie konnte die deutsche Wehrmacht Italien derart schnell überrennen? »Nachschub heißt das Zauberwort, das schon über Sieg oder Niederlage mancher Armee entschieden hat«, murmelte Nico, während er einmal mehr am Küche n tisch über den Dokumenten brütete, die er im Palazzo Ma n zini erbeutet hatte. Die verschiedenen Firmen und Geschä f te seines Gegenspielers waren ihm schon bei früherer Gel e genheit als durchaus »kriegsnützlich« aufgefallen. Aber damals hätte er nicht einmal zu denken gewagt, dass Ma n zini die deutsche Invasion durch das Anlegen geheimer Nachschublager vorbereiten könnte. Zugegeben, das war nur eine Theorie, aber eine, die sich mit den vorliegenden Schriftstücken deckte.
Selbst wenn Manzini den Feind mit seinen Depots nur r e gional unterstützte, erfüllte dies den Tatbestand des Hoc h verrats. Was hatte er ihnen noch geliefert? Landkarten, I n formationen über Kasernen oder strategisch wichtige Pun k te? Nico entsann sich der drei Gespräche, die sein Widers a cher mit Karl Hass, diesem SS-Spion aus der deutschen Botschaft, geführt hatte – insgesamt gab es zwischen den beiden bestimmt weitaus mehr konspirative Kontakte. Mit t lerweile traute Nico dem Mörder seines Vaters alles zu. Leider konnte er nichts hieb- und stichfest beweisen. Wozu auch? Vor einem Vierteljahr noch hätte Manzini die Ankl a ge des Landesverrats gewiss nicht so einfach in einer Schublade verschwinden lassen können, egal welche Ve r dienste er sich in früherer Zeit um die faschistische Sache erworben hatte, aber nun war der Zug leider abgefahren.
»Ich muss nach Nettunia zurück«, sprach Nico seine G e danken aus und begann die Unterlagen zusammenzurä u men. Ich sollte sie irgendwo verstecken, wo sie vor Bomben sicher sind …
Am darauf folgenden Montagmorgen – es war der 13. September 1943 – wurde er bei der Procura del Re, der Staatsanwaltschaft, vorstellig. An den Eingängen und in der Vorhalle des Gebäudes standen Posten der Wehrmacht. Innerlich wappnete er sich gegen das Schlimmste. So wurde er
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