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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ließ seine Hand nicht los.
    »Nein, Niklas. Oder Nico. Es … Die Zeit reicht nicht mehr.«
    »Was redest du da …!«
    »Lass mich ausreden. Meine Lunge ist verletzt. Ich kenne mich in solchen Dingen aus. Bevor ich sterbe, musst du etwas wissen.«
    »Wenn du die Sache mit dem ›Purgatorio‹-Kommando meinst, die kenne ich schon. Du warst daran beteiligt, hast Manzini beim Mord an Matteotti assistiert …«
    »Nein, als wir ihn entführten, habe ich nur den Wagen …« Uberto verschluckte sich am eigenen Blut, hustete rote Blasen, die über seinem Gesicht zerplatzten und es mit Sprenkeln übersäten. Endlich fand er zur Sprache zurück. »Mussolinis Befehl war widersprüchlich. Ich dachte, wir … sollten den Generalsekretär nur einschüchtern, aber dann … brachte Don Massimiliano ihn kaltblütig um.«
    »So ähnlich habe ich mir das schon gedacht. Und jetzt schweig, damit du nicht deinen letzten Atem vergeudest.«
    »Es ist … zu spät«, beharrte Uberto. Seine Stimme wurde immer schwächer. »Eins musst du … musst du noch wi s sen. Ich habe alles aufgeschrieben und bei … einem Freund meiner Familie hinterlegt, der Notar ist. Ich bin in Sonnino geboren … Du weißt schon, das Sonnino hier in Latium. Geh … zu … Dottore …«
    Uberto hörte einfach auf zu sprechen. Der Mund war noch geöffnet, aber seine Augen gebrochen.
    Nicos Kopf sank herab. Als wäre ein Damm geborsten, strömte die ganze Anspannung aus ihm heraus. Sein Körper erbebte unter dem Gefühl ohnmächtiger Verzweiflung. Tränen rannen ihm über die Wangen. Er hatte den tumben Menschen, der noch im Tod seine Hand festhielt, nie als einen Freund angesehen. Uberto besaß eine zwielichtige Vergangenheit und manchmal ein aufbrausendes Wesen. Aber meistens war er wie ein zahmer Bär gewesen, der mit seiner Kraft und Ungeschicklichkeit anderen ein Schmu n zeln entlockte. Er hatte seine Verfehlungen wohl bereut und jahrzehntelang an einem schlechten Gewissen gelitten. Vielleicht war er im tiefsten Inneren einfach nur ein schw a cher Mensch gewesen, der einmal gestrauchelt war und keine Hand gefunden hatte, die ihm wieder auf die Beine half.
    Müde richtete sich Nico endlich auf. Er lief zu der Ahor n schatulle, die von Manzini unbedacht zur Seite gekickt worden war. Nachdem er sie aufgehoben hatte, bückte er sich nach den Überresten der goldenen Uhr und stutzte. Auf dem Zifferblatt war nur noch ein einziger Zeiger zu sehen. Der Anblick ließ Nico erschauern, beschwor er doch Ve r fluchungen aus seinem Gedächtnis herauf, die ihm damals nur wie das wirre Gestammel eines Sterbenden erschienen waren. Jetzt hatten sich die letzten Worte seines Vaters e r füllt, als wären sie eine düstere Prophezeiung gewesen, ein zum Bann gewordenes Gedicht.
     
    Achte gut auf deine Lebensuhr!
    Und bebe vor Furcht!
    Denn wenn ihr Zeiger verschwindet
    und die Unruh erstarrt,
    kommt mit ihr auch dein Leben zum Stehen,
    wird für immer vergehen.
     
    Nico suchte mit den Augen den Boden ab. Er konnte den Stundenzeiger nirgends finden. Also bettete er die Überre s te der Uhr sanft wie die Gebeine eines verstorbenen Freu n des auf den schwarzen Samt und schloss mit leisem Kla p pen die Kiste.
    Sein Blick fiel auf das wie eine groteske Maske auss e hende Gesicht des Mannes, der in seinem Leben so viel Leid verursacht hatte. Nico schüttelte den Kopf. Andere Worte, die sich seinem Gedächtnis vor einer Ewigkeit ei n gegraben hatten, drängten mit einem Mal wieder hervor.
    »›Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt! Fort musst du, deine Uhr ist abgelaufen.‹«
    »Das ist aus Schillers Tell, nicht wahr?«, meldete sich plötzlich eine Stimme von der Tür.
    Nicos Kopf ruckte herum. Überrascht sah er die Gattin des Verstorbenen auf sich zukommen. Hatte sie eine Wa f fe? Wollte sie den Toten rächen? Weder für das eine noch das andere konnte er irgendwelche Anzeichen erkennen. Sie durchquerte ruhig den Raum, blieb neben ihm stehen und sah mit unbewegtem Gesicht auf ihren verblichenen Gemahl.
    »Ich habe lange in der Schweiz gelebt. Wilhelm Tell ist dort Nationalheld«, sagte sie unvermittelt und riss sich erst dann vom Anblick des Hingeschiedenen los.
    Nico starrte sie nur ungläubig an. Die ganze Situation kam ihm irgendwie surreal vor. »Ich …«, stotterte er. »Sein Herz … ich vermute, es war ein Herzanfall. Seine Leben s uhr –« Nico zeigte ihr die Kassette – »ist stehen geblieben. Sie wurde von meinem Vater gebaut. Er hat Don Massim i liano verflucht,

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