Der Herr der zerstörten Seelen
Kathedrale aufzunehmen: eine Goldauster, tief versunken im unzerstörbaren Panzer aus Granit, die die Geheimnisse der Welt enthielt.
»Ich!« rief Legrand. Und ›Ich‹ kam es aus der riesigen Höhle zurück. Die Akustik war unglaublich: Ich – ich – ich – ich …
Er ging in die Mitte, zum ›Stern‹, riß die Arme hoch, und während er das tat, fühlte Legrand sich wirklich frei, fühlte, wie seine Seele frei wurde und alles Belastende, alle Gedanken und Schmerzen versanken.
Der weiße Mantel, den er stets trug, wenn er in die Berge kam, glitt bis zu seinen Schultern und ließ die Arme frei. Sie waren weiß und mager. Er betrachtete sie, als gehörten sie nicht zu ihm, und dachte in einem Einbruch klarer Erkenntnis, der wie ein Blitzlicht sein Bewußtsein entzündete: Du bist verrückt. Wirklich verrückt … Und dies alles ist nicht wahr. Dies alles bildest du dir ein, dies ist … ist Film – ja Film!
Doch dann warf das Licht blaugrüne Bahnen um ihn, und die Säulen leuchteten golden, und er sank auf eine der Polsterbänke.
Die Kopfschmerzen meldeten sich.
Morgen, dachte er, morgen noch …
Und: Das stehst du noch durch …
Angst und Dankbarkeit, Dankbarkeit und Angst sind die Quelle der Gebete zu allen Zeiten, der Urgrund des Flehens von Anfang an.
Als die Hitze die Kinder tötete und sie in ihren Höhlen saßen und ihre Blicke vergeblich nach Wolken suchten, die Regen brachten, als der Himmel aus gleißenden Feuerschlangen bestand, die zur Erde fuhren, Menschen und Tiere erschlugen und Wald und Gras in Flammen setzten, waren die Götter zornig, und nur die weisen Männer wußten, wie man sie durch Gebet, durch Tanz und Gesang wieder besänftigen konnte. Ein einziger, der wahre Gott, löste die vielen Götter der Väter ab, und in seinem Ausgeliefertsein strebte der Mensch nach Vereinigung, nach Geborgensein, nach dem Schutz vor den Qualen, der Erlösung im Paradies.
Doch ob Christentum oder Islam, ob einer an die Gesetze des Konfuzius glaubte oder an die ewige Läuterung durch die Wiedergeburt der östlichen Religionen – wer Gottes Willen zu deuten wußte und seine Gesetze vermittelte, der gewann Macht über andere.
Sekte ist ein lateinisches Wort für ›Richtung‹. Es kommt von secare , trennen, und alle, die sich da von den großen Weltreligionen trennten, hatten für sich eine neue Wahrheit gefunden, zielten nach Macht und erhielten sie.
Der Verleger des Nachrichtenmagazins ›Heute‹, Ernst Schmidt-Weimar, saß an diesem Morgen im Frühstückssalon seiner Villa in München-Grünwald und blätterte in dem schmalen Buch, das er gerade einem flüchtigen Diagonalstudium unterzogen hatte. Das Buch trug den Titel ›Die Psychologie der Sekten‹ und war von einem Dreier-Team amerikanischer Wissenschaftler herausgegeben worden.
Schmidt-Weimar gönnte sich einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und schloß die Augen. Zehn Uhr. Mein Gott, was für eine Frühstückslektüre, was für ein Tagesbeginn! Köschner würde in zehn Minuten hier sein. »Ich muß Sie leider dringend sprechen, mein Lieber, wirklich, äußerst dringend, sonst würde ich Ihnen meinen Besuch zu dieser Stunde ja nicht zumuten … Aber es sind einige Dinge vorgefallen. Es geht um die GW …«
Es geht um die GW? Nur der Teufel konnte wissen, was unter dieser Ankündigung zu verstehen war. Aber das Buch hier war Schmidt-Weimar gestern in die Finger geraten, und wenn Köschner es schon mit der GW so wichtig hatte, war es kein Schaden, ihm mit ein paar klugen Sätzen zu kommen. Hier, dieser Abschnitt zum Beispiel, den Schmidt-Weimar mit Bleistift eingerahmt hatte:
»Zu den entscheidenden Zielen der Sektenführung hat es schon immer gehört, bei ihren Anhängern ein höchstmögliches Maß an Selbstentfremdung zu erreichen. Die Technik, die dazu angewendet wird, beginnt mit der totalen Isolation von Familien, Freunden und bisherigem Umfeld und führt dann zu allen Varianten psychischer und seelischer Indoktrination. Je mehr das Selbst geschwächt wird, desto stärker wird die Autorität des Sektenführers. Er ist es nun, dem alle Verantwortung übertragen wird, weil er das Mitglied nicht nur auf den Heilsweg geführt hat, ihm Sicherheit vermittelt, sondern auch alle seine Ängste und Entbehrungen zu lindern vermag. Die Arbeit, die Fähigkeiten, die Talente und jedes materielle Streben werden den Sektenzielen untergeordnet, und meist werden dabei Geld und Macht zu siamesischen Zwillingen.«
Geld und Macht – siamesische
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