Der Herr der zerstörten Seelen
rieb sich die Hände. »Hier gibt's nur ein Wunder, Tennhaff: daß wir noch leben …«
Er schwieg.
Sie hob den Kopf und starrte ihn an. »Gut. Ich bin ein Weltwunder. Und wer bist du?«
Er griff nach ihrer Hand. »Das werde ich dir alles noch erklären. Aber das ist eine sehr lange und eine sehr komplizierte Geschichte …«
»Dann erklär's mir später.«
Sie stand auf und klopfte den Schnee von ihrem grünblauen Anorak. »Du wußtest, was das für Irre sind? Und du wolltest auch raus aus der GW? In der letzten Zeit warst du überhaupt der einzige, den ich für normal hielt … Weißt du, was das größte Glück ist? Daß wir das geschafft haben, findest du nicht?«
Er nickte.
»Du«, sagte sie, »ich bin gerade noch mal zu der Stelle gegangen, wo der Rotor den Baum umgesäbelt hat. Dann bin ich ein bißchen hochgeklettert und hab' nach rechts geguckt, auf die andere Hangseite. Da ist ein Felsen und vor dem Felsen ein ganzes Viereck schwarzer kleiner Punkte.«
»Punkte? Wieso Punkte.«
»Ein Zaun«, sagte Kati. »Und wegen des Schnees siehst du nur die Oberkante der Pfähle. Aber das ist noch nicht alles … Unterhalb des Felsens, da ist 'ne halb zugewehte Mauer. Das hab' ich zunächst gar nicht erkannt, denn sie ist so granitgrau wie der Fels, verstehst du? Aber die Mauer gehört zu einem Haus. Da war auch so 'ne Schräge, und da sah ich: Das ist das Dach. Unterhalb dieser Felsen, Tennhaff, steht eine Berghütte.«
Sie sah ihn an. Sie hatte so viel Glanz in den Augen, und dazu noch dieses Lächeln. »Na, was sagst du jetzt?«
»Daß du ein Weltwunder bist.«
Der Marsch durch den Schnee war mühsam, und auch die Sicherheitsnadeln aus dem Verbandskasten, mit deren Hilfe Kati Roberts linkes Hosenbein geflickt hatte, halfen nicht viel. Der Schnee war eiskalt, und für die paar hundert Meter bis zur Wand brauchten sie beinahe eine Stunde. Immerhin hatte das Schneetreiben inzwischen fast völlig nachgelassen, dafür aber hatte sich ein ziemlich scharfer Wind aufgetan, der in die Haut biß. Er würde die Wolken vertreiben, und das bedeutete klare Sicht. Auch das war nicht unbedingt angenehm.
Schon auf der letzten Strecke zu der Wand und der dunklen Steinmauer, in der Tennhaff nun eine Tür und zwei Fensteröffnungen erkennen konnte, war er immer wieder stehengeblieben und hatte gelauscht: Nichts. Nur gelegentliches Schneerieseln, wenn ein Ast unter der Last brach. Rocca hatte nicht viel Chancen, seine Leute loszuhetzen. Das war zu beschwerlich. Aber sie würden sie suchen, soviel stand fest, und es gab immer noch den zweiten Hubschrauber …
Robert sah auf die Uhr. Es war jetzt vier. In zwei oder drei Stunden kam die Dunkelheit. Mit dem Feuer in der Hütte, auf das er gehofft hatte, würde es wohl nichts werden.
»Tennhaff?«
Kati war vorausgelaufen und rüttelte an dem Vorhängeschloß, das die schwere Tür aus groben Holzbohlen sicherte.
Er fand ein verbogenes Eisenstück, mit dem er das Schloß aus der Halterung brechen konnte, und hatte ein schlechtes Gewissen dabei. Aber gut: Dies war eine Art übergesetzlicher Notstand. Und er konnte zum Ausgleich ja ein paar Mark mit einigen entschuldigenden Zeilen hinterlassen. Robert zog die Tür auf. Dämmrige Dunkelheit und ein wenig Wärme empfingen sie …
»Sie sind das also?« sagte Do Folkert, als Heininger die Krankenstation betrat, in die sie zusammen mit Jan und Tommi gleich nach ihrem Eintreffen im Präsidium gebracht worden war. »Und wenn Sie als Soko-Chef schon sagen, wo's langgeht, könnten Sie ja auch die Freundlichkeit besitzen, mir zu erklären, was das hier soll. Wollen Sie mich etwa in der Krankenstation einschließen? Und wenn schon – warum hier?«
Sie trug den Arm in der Schlinge, und auch ihr Gesicht war ziemlich blaß, aber in ihr brannte Kampflust. Ausgerechnet jetzt mußte diese mistige Schulter ihr wieder Schmerzen bereiten. Do biß sich auf die Unterlippe und betrachtete den Kommissar. Knochig sah er aus, ziemlich ungelenk, so als hätte es einige Mühe gekostet, ihn zusammenzubauen. Er hatte graues kurzgeschnittenes Haar und hinter der randlosen Brille ein Paar dunkle aufmerksame Augen. Typ Physiklehrer, entschied Do, der auch den Sportunterricht übernimmt, wenn's darauf ankommt. Heininger wiederum betrachtete sie, als habe er es mit einem seltenen Vogel zu tun, was Do mißfiel. Es mißfiel ihr heftig. Was sagte er da?
»Nun«, sagte Heininger. »Ich hab' mir halt eingebildet, Sie wären etwas pflegebedürftig.«
»Das heißt
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