Der Herr der zerstörten Seelen
Brief, den Jan gestern nacht gefunden hatte: »Nichts ist Zufall, auch nicht, daß wir uns in Bayreuth wiedersehen …«
So ähnlich stand das doch auf dem angekokelten Papier? Und dazu noch der gleiche esoterisch-mystische Spinnerstil, der irgendwie an östliche Weisheitslehren erinnerte.
»Was da steht, was ist das?« fragte Do. »Ist das so eine Art Mantra?«
»Richtig«, nickte Timo. »Wissen Sie denn, was ein Mantra ist?«
»Na, ein religiöser Vers wohl …«
»Es ist die Richtung eines geistigen Weges.« Er lächelte, und es war ihm nicht anzusehen, ob er es ernst meinte, was er sagte. »Und auch die Verbindung zu einem Lehrer und seiner Lehre. Also, wenn Sie wollen, ein Schlüssel zur Erleuchtung. Oder ein Schlüsselchen. Manchmal sind das allerdings ziemlich verbogene und verrostete Schlüssel.«
Ein Schlüssel … Damit beschäftigte sich ihre Tochter? Do versuchte es sich vorzustellen: Eine von Weihrauch benebelte Kati im Lotossitz vor irgendeinem safrangelben Verrückten, der ihr gerade die Ohren vollblies.
Aber dieser Name? Martin Hilper?
Sie starrte die Telefonnummer an.
Bayreuth, dachte sie …
In die Schloßkantine wollte er sie nicht bringen, dort hatten sie den ganzen Bonzenrummel am Hals. Auch die Sicherheitszentrale war nicht der richtige Ort. So führte Tennhaff Kati in seine Wohnung. Sie sah sich nicht einmal um. Sie setzte sich in einen der beiden blauen schäbigen Segeltuchstühle, hatte die Hände auf den Knien und blickte durch das Fenster in den Schloßpark hinaus.
Als Tennhaff mit dem Kaffee zurückkam, saß sie noch da wie zuvor. Er stellte die Kaffeetasse vor sie hin. »Was zu essen?«
Sie schüttelte nur den Kopf.
Er zog sich den zweiten Sessel heran und setzte sich ihr gegenüber. Es war ziemlich warm im Raum. »Wollen Sie Ihren Anorak nicht ausziehen?«
Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Kati, ich seh' ja ein, daß Ihnen das alles nahegeht. Aber ich hätte Sie jetzt gerne doch einiges gefragt.«
»Ja.«
»Sie kannten Toni gut?«
»Nein. Überhaupt nicht … Mich hat Martin Hilper hierher gebracht. Wie Toni nach Schönberg kam, weiß ich noch nicht mal. Reto hat gesagt, sie gehöre zum Kurs, und es kämen noch mehr … Aber wir waren die beiden einzigen …«
»Es werden bald mehr sein. Also, Toni kam in Ihr Zimmer – und?«
»Sie wollte zu mir ins Bett. Sie fror so schrecklich. Ihr war so elend …«
Er versuchte sich vorzustellen, was Kati nun beschrieb: Tonis hechelnder Atem, das Zähneknirschen, leise Schreie und diese seltsame Starre an Nacken, Rücken und Hals …
»Das kam, und das ging. Und sie schrie immer wieder. Ich hab' gar nicht verstanden, was es war. Nur am Anfang sprach sie klar …«
»Ja?«
»Am Anfang hat sie gesagt …«
»Was, Kati? Warum reden Sie nicht weiter?«
»Sie sagte, man hätte ihr etwas gegeben. Oder man hätte uns was gegeben …«
»Wer?«
»Ich war mir darüber auch nicht klar. Aber ich glaube, sie meinte wohl Reto. Und diese Sitzungen, die er im Pavillon mit uns hielt. Sie sprach von einem ›Stuhl‹ und meinte wohl den großen Sessel mit der Armlehne, in den man sich setzt, wenn Reto den Reinigungskurs durchführt.«
»Und was soll dabei gegeben worden sein?«
»Sie sprach von dem Tee, den wir bei der Sitzung immer trinken. Und von Speed …«
»Sie meinen, Amphetamin-Tabletten?«
»Irgend so etwas wohl. Sie sagte, sie kenne das. Sie hätte es schon probiert. Und dann redete sie von Schmetterlingen im Bauch und sagte, daß hier alle verrückt seien …«
Er nickte, nickte ganz ernsthaft und gab sich Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie oft er das gleiche dachte.
Aber Kati war anderer Ansicht.
»Ich habe mich doch bei Reto so wohl gefühlt, auch im Pavillon. Ich kann Toni einfach nicht begreifen. Und Reto ist doch … ich meine, da ist nichts passiert. Toni irrt sich bestimmt. Reto meint es so gut …«
Es war, als habe sie ein Stichwort gegeben.
Die Tür ging auf, und da stand er: Reto Kolb, schwer und rund, im weiten Pullover und mit dem ewigen Buddha-Lächeln im Gesicht. Nur die Augen waren hart. Sehr hart sogar.
»Hier bist du? Aber was soll denn das? Was tust du denn hier, Kati?«
»Kaffee trinken«, sagte Tennhaff, »Kaffee – nicht Tee.«
Tommi Reinecke hockte auf einem Stuhl, die Knie hochgezogen, und starrte hinüber zu dem blaßblauen Haus auf der anderen Straßenseite. In dem Zimmer standen ein Klavier und ein paar ärmliche Möbel. Zudem war es kalt, so saukalt, daß die Fensterscheibe immer
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