Der Herr der zerstörten Seelen
andere … Und jetzt – was sind das für Menschen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du gehörst doch auch dazu. Was wollen sie? Martin sagte, ich käme vielleicht in eines dieser Entwicklungs-Camps in Vietnam. Ich wollte wirklich nur arbeiten …«
»Kati …« Er hatte sie angesehen. »Ich gehöre nicht zu ihnen. Und mach dir keine Sorgen: Es geschieht dir nichts.« Der Pilot hatte sich in seinem Sitz festgeschnallt. Dann war auch Ted Rocca gekommen, und das Schwein hatte auch noch den Nerv, Katis Gesicht zu streicheln. Und dann flogen sie …
Und nun die Schweiz! Dörfer zwischen halb geschmolzenen Schneeplacken, nasse Dächer, goldene Wetterhähne auf Kirchtürmen und wieder Schnee, immer mehr Schnee. Und dann eine gewaltige, schräge Mauer, die sich in den Himmel schob: Weiß, wo man hinsah, nur Weiß …
Sie überflogen die Alpen …
Kälte … Nichts als Kälte …
Sie floß unter der Haut, strömte durch Nerven und Adern, ließ ihre Beine zittern. Die Schmerzen im Rücken und an den Handgelenken spürte sie nicht länger. Auch die hatte die Kälte ausgelöscht.
Hanne Moser lauschte diesem schrecklichen rasselnden und röchelnden Geräusch, das ihr Atem war. Ihre Lungen pumpten nach Luft. Jedesmal, wenn sie in ihrer Qual dem Körper eine neue Anstrengung abverlangte, bäumte er sich auf, doch dann schlug der Kopf wieder hart auf die Fliesen, und es tat so schrecklich weh …
Heilige Jungfrau …
Es waren Worte, an die sie sich klammerte. Es waren die Worte des Stufengebets der Heiligen Messe: »Maria. Ich bitte die selige, immerwährende Jungfrau Maria … bitte den seligen Erzengel … Michael … den seligen … Johannes den Täufer … ich bitte alle Heiligen und Brüder … für mich zu beten … helfen … bitte helfen … und für mich beten zum Herren, unserem Gott …«
Worte.
Sie flossen durch Hannes Kopf, ohne Gestalt und Sinn anzunehmen. Nun war auch die Kälte fort. Endlich! Nun war nichts mehr in ihr als selige Schwäche, ein glückliches Sichergeben.
Hannes Kopf sank zur Seite. Sie starb.
8
Vielleicht hatte es sich so ergeben, Absicht steckte nicht dahinter, doch schon während ihrer Ehe hatte Do Folkert mit der beruflichen Welt ihres Mannes kaum Kontakt gehabt. Nicht nur, daß ihr Krankenhäuser, weiße Kittel und Desinfektionsgeruch ein Greuel waren, für sie blieb die ganze Medizin eine Art abgeschlossene Welt, mit der sie möglichst wenig zu tun haben wollte. Kein gutgelaunter Oberarzt, der Krankenhauswitze erzählte, saß abends am Tisch, keine Oberschwestern oder Medizinalassistentinnen gab es für Do, deren Vornamen und Geburtstage man kennen mußte; schließlich hatte sie Jan auch keine Journalistenkollegen angeschleppt. Und so war es geblieben, und sie hatten es euphemistisch ›Zonentrennung‹ genannt.
Doch jetzt?
Im Klinikum hatte Tommi sich in die Cafeteria gesetzt, und Do stand grübelnd vor einer gewaltigen Tafel vielfarbiger Streifen mit wichtig klingenden Aufschriften darauf. Irgend etwas Weißes huschte an Do vorbei. Sie streckte die Hand aus.
»Verzeihung! Ich suche Dr. Jan Schneider.«
Es war eine etwa vierzigjährige Frau. Die Brille hing ihr mitten auf der Nase, und auf dem Revers ihres Mantels war eine Plakette befestigt, auf der ›Dr. Pfenniger ‹ stand.
»Professor Schneider? Das ist der vierte Stock. Sein Zimmer ist, glaube ich, vierhundertzwanzig. Sagen Sie …« Sie wandte sich ab und blieb nochmals stehen.
»Ja?«
»Sagen Sie, kenne ich Sie nicht von irgendwoher?«
»Kann schon sein …«
Do beeilte sich, daß sie in den vierten Stock und in dieses Zimmer vierhundertzwanzig kam.
Als sie eintrat, stand Jan mit dem Rücken zu ihr an einem Schreibtisch und blätterte in irgendwelchen Papieren. Die Sekretärin am anderen Schreibtisch wandte empört den Kopf und schnappte: »Tut mir leid. So geht das nicht. Sie müssen sich schon anmelden.«
»Gerne«, sagte Do. »Aber es ist wirklich dringend.«
Jan drehte sich um. Seine Halbbrille hing an derselben Stelle wie bei der Ärztin in der Halle, und er hatte auch den gleichen ungläubig forschenden Blick.
»Do? Menschenskind …«
Sie nickte und versuchte zu lächeln.
»Was ist denn?«
Sie warf der Sekretärin einen Blick zu.
Jan durchquerte den Raum und öffnete eine zweite Tür. »Komm rein. Ich bin zwar ziemlich in Druck, das heißt … Rosi, tun Sie mir den Gefallen und sagen Sie den Termin mit Dr. Koschek ab. Sagen Sie, ein dringender Fall sei dazwischengekommen. Sagen Sie irgend etwas,
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