Der Herr der zerstörten Seelen
Wohnung kann ich besorgen.«
»Und Dos Abgang aus diesem großartigen Klinikum?«
»Durch die Pathologie.«
Tommi Reinecke riß die Augen auf: »Die Pathologie?«
»Klar. Im Rückgebäude. Und die Anfahrt liegt ziemlich versteckt. Schließlich, welches Krankenhaus zeigt schon gerne seine Leichen?«
Sie flogen noch immer sehr tief.
Tennhaff konnte verfolgen, wie der Fluß dem Ausgang des steilen, schattigen Gebirgstals zustrebte, wie sich das Tal dann in eine Ebene öffnete, und der Fluß dem See dort zufloß, der blau und leuchtend unter einem glasklaren Himmel wie eine Verheißung auf sie zu warten schien.
Ted Rocca drehte Tennhaff den Kopf zu und deutete auf seine Ohrenschalen.
Tennhaff schaltete die Bordverständigung ein. »Da unten rechts, das ist Locarno«, hörte er den Amerikaner sagen. »Und die Ebene die Magadino-Ebene. Siehst du den Flugplatz?«
Tennhaff nickte.
»Unsere vier Hubschrauber haben wir normalerweise dort abgestellt. Wir haben einen Bergrettungs- und Krankentransportdienst aufgezogen. TAS nennt sich das Ding, ›Tessiner Aero-Service‹. Das ist ganz praktisch.«
Tennhaff nickte wieder. Ihm war zwar nicht klar, was in diesem Fall so praktisch sein sollte, doch er wußte: Eine der großen Stärken der GW lag in den sozialen Diensten, die die Vereinigung, wo immer sich die Gelegenheit dazu ergab, lokalen Behörden anbot. Doch Cannero befand sich in Italien – dies hier war die Schweiz. Na ja, in der Schweiz lagen auch Lausanne und Genf. Und vor allem die Banken …
Der Schatten des Hubschraubers zog weiter seine Bahn nach Süden, glitt jetzt über Häuser und Gärten. Locarno, hatte Rocca gerade gesagt. Der Schatten streifte Straßen, eine gewaltige Landzunge – und wieder den See.
»Dort vorne kommt gleich die Grenze. Der Grenzort heißt Brissago. Und das da, das ist Ascona …«
Meinetwegen, dachte Tennhaff. Die Bergküste des Sees war von teuren Garten-Pools und weißen Villen besiedelt. Es waren ziemlich hohe Berge. Vor dem anderen Ufer lag ein rosa Nebelschleier. Der See glitzerte.
»Ist das der Lago Maggiore?« fragte Kati.
Tennhaff nickte. »Ja.«
»Ich war mal hier. Mit meinen Eltern …«
Sie mußte damals ziemlich klein gewesen sein, denn in Schönberg hatte sie ihm erzählt, daß ihre Eltern sich bereits vor zehn Jahren getrennt hatten. Wie immer, wenn er an Katis Geschichte dachte, dachte Robert auch an die Geschichte seiner Ehe und seiner Tochter, die er seit der Scheidung nicht mehr gesehen hatte, und fühlte dabei den gleichen leichten Druck im Hals.
Der Pilot hatte den Rotor auf Steigflug eingestellt, und das singende Dröhnen des Motors füllte die Kabine.
Sie überflogen einen Gipfel. Dicht unter ihnen schien sich eine Alm zu befinden. Ja, da waren Kühe, schwere Granitdächer, ein Mann, der ihnen nachblickte. Ein neues Tal tauchte auf, nichts als tiefe Schattenschluchten, und dann wieder ein Hochplateau. Ab und zu waren an den Hängen vereinzelte Häuser oder kleine Dörfer zu sehen. Sie wirkten wie angeklebt. Dann gab es keine Siedlungen mehr. Auch der See war verschwunden.
»Dies ist schon Italien«, meldete Rocca im Kopfhörer. Der Hubschrauber zog eine geradezu abenteuerliche Linkskurve, flog jetzt so niedrig, daß die Kufen die grauen Granitfelsen zu streifen schienen. Dann waren sie darüber hinweg, und ein neues breites Tal, nein, eine Hochfläche öffnete sich. Das Motorengeräusch erlosch in einem sanften Singen. Tennhaff spürte das Knacken in den Ohren und den Druck im Magen, als die Maschine rasch an Höhe verlor. Er beugte sich nach vorne. Kati tat dasselbe. Auf ihrem Gesicht lag eine Art ungläubiges Staunen. Das Bild war überwältigend.
Das Plateau lag mitten in einer Bergwildnis aus Granit und Gneis. Es lag in einer Höhe von etwa zwölfhundert Metern, schätzte Tennhaff, der die Zahlen am Bordinstrument ablas. Es war sehr breit, und soweit Tennhaff erkennen konnte, führte nur eine einzige schmale Straße hinauf, die geradezu abenteuerliche Serpentinen aufwies. In der Mitte der Hochfläche aber, umringt von kleineren Gebäuden, erhob sich ein gewaltiges kreisrundes Bauwerk. Hoch und unwirklich trutzig mit seinen Zement- und Stahlstreben und Fenstern, die wie Schießscharten wirkten, warf es seinen Schatten bis zum Fuß einer gewaltigen Felswand.
»La Torre«, sagte Rocca, »der Turm.«
Tennhaff kannte den Namen. Er hatte auch Fotos in den GW-Veröffentlichungen gesehen. So imponierend aber hatte er sich das alles nicht vorgestellt.
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