Der Herr der zerstörten Seelen
sie hatte nur genickt. Und in ihr war nichts als Beklommenheit gewesen.
»Da hast du die Bücher für den Unterricht.«
»So?«
»Diese Woche ist frei. Diese Woche haben wir Ring-Weihe. Nur die Mädchen …«
»Und was ist Ring-Weihe?«
»Oh, das erfährst du noch … Aber Omega, Omega selbst wird das durchführen. Zum ersten Mal …«
»Was durchführen?«
»Die Ring-Weihe.«
»Und wer ist Omega?«
»Omega?« Chantal riß ihre Augen auf, dann lachte sie. »Du weißt nicht, wer Omega ist?«
Kati hatte den Kopf geschüttelt.
»Ah, der größte Mann von allen. Compris?«
Von allen? Sie meinte wohl die GW? »Ich denke, das ist Arjun?« fragte Kati.
»Arjun ist die Seele.« Chantal legte die Hand aufs Herz. »Omega aber, Omega ist la tète, der Kopf.«
»Ah.«
»Ja. Und jetzt komm. Ich hab' schon alles vorbereitet.«
Und das hatte sie. Auf dem Tisch warteten das Geschirr, ein Warmhaltebehälter mit Essen, eine Flasche Mineralwasser und ein Obstkorb. »Wie bringt ihr das alles hier herauf?« fragte Kati.
Chantal lachte wieder. »Mit dem Auto. Oder dem Heli. Manchmal ist die Straße nämlich zugeschneit. Da, du essen. Und ich komme nachher wieder …«
Ehe Kati etwas erwidern konnte, hatte sie das Häuschen verlassen.
Kati schloß die Augen. Sie hielt beide Hände gekreuzt auf den Knien und blickte auf den Teller mit den beiden Buchstaben GW. Sie saß lange so. Um sie war nichts als Stille, eine so absolute Stille, daß sie wie ein schweres schwarzes Gewicht wirkte.
Kati verspürte keinen Hunger. Sie ließ das Essen unberührt. Sie dachte an Tennhaff, aber das führte auch zu nichts. Sie erhob sich und ging zum Fenster. Draußen färbte sich der Himmel nun blutrot. Die Sonne war verschwunden. Katis Wangen berührte das sanfte, angenehme Fächeln einer Klimaanlage.
Kati versuchte das Fenster zu öffnen. Es ging nicht. Sie drückte noch stärker. Umsonst. Die Klinke war wie verschraubt.
Sie lief durch das Zimmer in den kleinen Vorraum und von dort zur Tür. Abgeschlossen! – Sie ging ins Schlafzimmer und kauerte sich neben ihr Bett. Sie umschlang ihren Kopf mit beiden Händen. Abgeschlossen? Nein, eingesperrt, verriegelt, isoliert, gefangen wie ein gefährliches Tier! …
9
Kati Folkert lag in ihrem Bett, die Knie angezogen, die Arme um ein Kissen geschlungen, das Gesicht in dasselbe Kissen gedrückt, als könne sie so allem entfliehen, den dunklen Bergen dort draußen, den eisigen Sternen, der schwarzen Silhouette des Turms. Sie konnte nicht schlafen, deshalb hatte sie erneut die Nachttischlampe angeknipst, doch die Augen blieben geschlossen und suchten nach Bildern, die beruhigen konnten: der kleine Hof in der Toscana – wie hieß der Ort noch? Longa … Und dann Jan, Jan, der so ausgelassen war. Er hatte sie immer nach Longa gebracht … Kati hatte an das Meer gedacht, doch auch das Meer konnte nicht helfen, und schließlich wieder an Starnberg, den Garten, den Hang, die Tannen, ihr Zimmer vor allem, die Bilder an den Wänden, die Terrasse … Doch die Erinnerung an die Terrasse war mit dem Feuer verbunden, in dem ihre Bilder verbrannten, mit dem Geräusch der zerberstenden Gitarre, mit Do. Alles war mit Do verbunden – alles!
Damals war Katis Welt zu Bruch gegangen. Wann war dieses Damals? Vor Monaten, Jahren, Ewigkeiten? Oder nur vor Tagen?
»Du bist nichts als auf der Suche, Kati, auf der Suche nach dir selbst …« Das war Martins leise, weiche Stimme. Und Timo Konietzka? Hatte er nicht genau dasselbe gemeint, wenn er mit ihr sprach? Doch Martin und Timo blieben graue Schemen …
Nur Tennhaff blieb. Und das war das Sonderbare: Der Gedanke an seine Hände und seine Stimme hielten Kati allein davon ab, verrückt zu werden.
Aber Tennhaff gab's auch nicht mehr …
Sie drehte sich zur Seite. Sie wußte nicht, wie lange sie so vor sich hindämmerte, aber dann drang ein Geräusch zu ihr. Draußen? Nein, im Haus. Und eine Stimme.
»Kati?«
Sie drehte sich um, schlug die Augen auf und fuhr hoch. Tennhaff!
Es gab ihn also noch. Und er war ins Haus gekommen. Er hielt die Hände in die Seitentaschen seiner Windjacke gestemmt, sah auf Kati herab, hatte sich wie mit einem geheimnisvollen Trick aus der Luft oder aus den Wänden materialisiert und lächelte sogar. »Hab ich dich gestört?«
Sie brachte keinen Ton heraus.
Er legte ihr die Hand auf die Schulter und setzte sich aufs Bett.
Sie starrte ihn an wie ein Wunder. Und er, er hatte noch immer die Hand auf ihrer Schulter.
»Die haben mich
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