Der Herr vom Rabengipfel
rechtmäßiger Erbe, da Erik sich für unsterblich hielt. Er hat Kenna nicht als rechtmäßigen Sohn anerkannt. Zu dumm. Nicht für mich, nicht für Merrik, dem nun das Land gehört, soweit das Auge reicht. Merrik ist nun der Herr von Malverne. Und wenn wir heiraten, bin ich die Herrin. Sarla wird gehen. Und du stirbst. Dafür sorge ich.«
»Merrik würde Sarla niemals aus Malverne fortschicken.«
»Er will mich glücklich machen. Ich werde seine Frau sein, und er wird tun, worum ich ihn bitte.«
»Was machst du hier, Letta?«
Merrik erschien in der Türöffnung, seine Hand schob die Bärenhaut beiseite.
»Ich wollte nur sehen, ob sie schon wach ist, Herr«, antwortete Letta honigsüß. »Sarla schickt mich, sie zu wecken. Eigentlich seltsam, daß Eriks Witwe sich so um die Sklavin kümmert, die ihren Ehemann umgebracht hat.«
Letta trat an Merrik heran, blickte ihm in die Augen und legte ihm die Hand leicht auf den Unterarm. »Es tut mir leid, Merrik. Erst deine Eltern, und jetzt hat diese Sklavin deinen Bruder erschlagen. Ich kann dir nachfühlen, wie dir zumute ist. Ich habe erst vor zwei Jahren meine ältere Schwester verloren. Ein furchtbarer Schlag.«
»Geh zu deinem Vater, Letta.«
Sie lächelte zu ihm auf, tätschelte seinen Arm und
ging.
Merrik trat ans Bett. »Wenigstens hast du dir nicht wieder neue Verbrennungen, Prellungen oder Peitschenhiebe eingehandelt.«
Sie schüttelte müde den Kopf. Er hatte ihre Brust noch nicht gesehen. Erik hatte ihr sehr wehgetan.
»Es ist vorbei«, sagte er. »Mein Bruder ist von uns gegangen.« Er sah das Bild vor sich, wie Erik den steilen Weg heruntergetragen wurde, sah seinen blutverschmierten Kopf. Er sah, wie die Frauen den Leichnam wuschen und aufbahrten. Der Tote wurde nicht ins Langhaus gebracht, da man fürchtete, sein Geist könne wiederkehren und den Bewohnern Böses antun. Man brachte ihn zu den Grabstätten und legte ihn behutsam mit den Füßen voran in ein tiefes Grab neben seinen Vater. Sein Schwert, seine Streitaxt und sein Lieblingsmesser wurden ihm beigegeben und dazu noch seine schönsten Armreifen und Kleider. Die Menschen standen noch unter Schock, die Trauer würde später kommen. Merrik dachte darüber nach, wie sehr sich Erik seit dem Tod der Eltern verändert hatte. Hatte er mit seinem Hochmut und seiner Verachtung die Menschen gegen sich aufgebracht? Hatte er sich einen Feind geschaffen, der ihm den Schädel mit einem Stein zerschmetterte? Das schien ihm unwahrscheinlich.
In Sarlas Gesicht spiegelte sich nur Schock, keine Trauer, keine Erleichterung. Ihre rechte Wange war noch von Eriks Schlag geschwollen und dunkelblau verfärbt. Sie war wie versteinert.
Merrik hatte die Gebete an die Götter — an Allvater Odin, an Rotbart Thor, an Loki, den Dämon des Bösen — gesprochen. Er hatte Eriks Kampfesmut, seine Ehre und seine Kraft gepriesen. Er richtete auch Worte an Saeter, den Herrscher der Unterwelt, dem er versicherte, Erik gehöre nicht in sein Reich, die Unterwelt habe durch seinen Tod keinen Gewinn. Er bat alle Gottheiten, sie mögen Erik Haraldsson über die Brücke des Regenbogens geleiten und ihm Einlaß in den Himmel gewähren, wo er bis in alle Ewigkeit weiterleben würde. Nach den Gebeten schloß er die Augen, um den blutverschmierten Kopf seines Bruder nicht länger sehen zu müssen. Es gab zu viel Sterben auf der Welt. Erst seine Eltern, jetzt sein älterer Bruder. Hatte Erik die Totengebete an den Gräbern der Eltern gesprochen? Hatten ihm Tränen in den Augen gebrannt? Hatte ihm die Stimme versagt? Hatte er mühsam seine Trauer hinuntergeschluckt, um die Rituale zuendezuführen?
Merrik spürte, wie eine kleine Hand sich in seine schob. Er senkte den Kopf und sah Taby neben sich stehen. Das Kindergesicht sah ganz betrübt aus, weil Merrik traurig war, und er nicht recht begriff, warum. Er bückte sich, hob das Kind hoch und küßte seine warme Wange. Seine dünnen Ärmchen schlangen sich um seinen Hals.
Niemand hatte etwas wegen Laren zu ihm gesagt, doch er wußte, daß alle sich fragten, welche Entscheidung er treffen würde. Er wußte, daß alle über sie redeten und sie der Tat bezichtigten. Er war nun Herr von Malverne und sein Wort galt.
Er blickte auf sie herab. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Hände lagen zu Fäusten geballt auf der Decke.
»Ich habe ihn nicht getötet, Merrik. Ich habe ihm mein Knie in den Unterleib gerammt und bin weggelaufen so schnell ich konnte, bis ich stürzte und das
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