Der Herr vom Rabengipfel
nach ihm. Und dieses Verlangen wurde immer stärker. Jedesmal, wenn sie ihn ansah, beschleunigte sich ihr Puls, ein beängstigender und zugleich erregender Zustand. Doch sie durfte ihrem Verlangen nicht nachgeben. Sie durfte sich nicht mit ihm vergnügen.
Der Pfad wurde steiler und unwegsamer, Felsbrocken und offene Wurzeln erschwerten den Anstieg. Bald ging ihr Atem schwer. Sie haßte ihre körperliche Schwäche. Das letzte Stück schaffte sie nur mit Mühe. Endlich war sie am Ziel.
Die Aussicht übertraf ihre Erwartungen. Tief unter ihr schlängelte der Fjord sich wie ein blaues Band dem Meer entgegen. Föhrenwälder zogen sich bis zum Horizont: unberührtes Land, zu steil und felsig, um es zu roden. Ihr Blick wanderte zum Gehöft von Malverne, dessen umliegendes Land, zu Ackerbau und Weideland genutzt, leicht zum Wasser abfiel. Der wehrhafte Palisadenzaun bildete einen Kreis. Selbst von hier oben wirkten die engstehenden, zugespitzten Holzpfosten unüberwindlich. Die Häuser innerhalb der Umzäunung waren solide und wetterfest gebaut. Eine dünne, blaue Rauchfahne kräuselte sich aus dem Dach des Langhauses in den lauen Sommerhimmel. Sie glaubte beinahe, Sarlas Essensdüfte zu riechen. Hinten an der Umzäunung befanden sich die Grabstätten und das Bethaus. Seit seiner Ankunft hatte Merrik die Gräber seiner Eltern häufig besucht und war jedesmal betrübt und mit gesenktem Kopf ins Haus zurückgekehrt. Sie hätte ihn gerne getröstet, scheute sich jedoch, ihm vom Tod ihrer Eltern zu erzählen. Damit hätte sie nur wieder seine Neugier angestachelt. Bald würde sie ihm die Wahrheit sagen müssen. Mit ihrer letzten Geschichte hatte sie ihn sehr wohl auf die Probe gestellt. Und er hatte sie bestanden. Sie konnte ihm vertrauen — ja sie mußte ihm vertrauen. Es blieb ihr keine andere Wahl.
Nicht weit vom Rand des Abgrundes entfernt setzte sie sich und lehnte den Rücken gegen den Felsen.
Ob wohl viele Liebespaare hier heraufspazierten, fragte sie sich und schloß die Augen . . .
»Ich habe dich gesehen und habe gewartet, ob mein Bruder dir folgt. Doch er kommt nicht . . .«
Sie hörte die Stimme aus weiter Ferne, sie klang einschmeichelnd und zufrieden. Eine Stimme konnte ihr nicht wehtun, konnte sie nur erschrecken.
»Niemand hat dich oder mich zum Rabengipfel heraufsteigen gesehen. Früher wurde die Stelle als Ausguck benutzt. Doch heute gibt es keine feindlichen Überfälle mehr. Der Rabengipfel ist ein Treffpunkt für Liebespaare geworden. Und jetzt bist du hier, Laren.«
In der Stimme lag die Genugtuung, der Triumph eines Mannes, der die Frau allein antrifft, die er haben will. Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.
»Du bist wach, Laren. Hast du dich hier heraufgeschlichen, um einen Mann zu treffen? Du bist allein . . . wie schön für mich. Hast du Merrik abgewiesen, oder wollte er dich nicht, so mitten am Tage?«
Sie öffnete die Augen. Über ihr stand Erik. Sie konnte sein Gesicht kaum erkennen, da er die Sonne direkt im Rücken hatte. Laren richtete sich auf, denn ihr empfindlicher Rücken rieb schmerzhaft gegen die rauhe Felswand. Sie kam sehr langsam auf die Beine.
»Es ist spät geworden«, sagte sie. »Ich muß aufs Feld zurück. Merrik wartet auf mich.«
»Warum kam er nicht mit dir hier herauf?«
»Ich wollte nur die Aussicht genießen.«
»Hier oben vergnügen sich viele Liebespaare.«
»Ich wollte nur die Aussicht genießen.«
»Und ich will dich. Jetzt ist es soweit. Vielleicht wußtest du, daß ich dir folge und hast dich deshalb von Merrik weggestohlen. Ist es das, was du wolltest?«
»Nein. Ich will nicht, daß Ihr mir wehtut. Ich muß jetzt gehen.«
Noch während sie sprach, wirbelte sie herum, war aber nicht schnell genug. Er war ebenso stark wie Merrik, und seine Finger gruben sich in ihren Oberarm. »Du bist immer noch zu mager. Meine Finger können deinen Arm zweimal umfassen. Versuch nicht, wegzulaufen. Das mag ich nicht.«
Sie stand nun wieder ihm zugewandt. Seine Gesichtszüge waren wollüstig verzerrt. Sie erinnerte sich an jene Nacht des Grauens, als es ihr gelungen war, einen der Männer mit einer vorgetäuschten Ohnmacht hinters Licht zu führen. Erik würde sie damit nicht überlisten können.
»Ich will mich nicht mit Euch paaren. Ich gehöre zu Merrik. Warum wollt Ihr Streit mit Eurem Bruder? Bedeutet er Euch nichts?«
Seine Augen verengten sich. Seine Finger gruben sich noch schmerzhafter in ihren Arm. Und wie zu einem einfältigen Kind sprach
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