Der Herzberuehrer
beide zusammen die Sache durchstanden. Immerhin war dies einmal unsere erste gemeinsame Wohnung gewesen. So viel war hier passiert...
Die grüne Kladde hatte sich im Schlafzimmer befunden, in einem kleinen Regal, das neben der Matratze hing. Sie steckte zwischen einem Roman von Terry Pratchet und zwei Ausgaben einer Mangaserie, die ich noch von Shiro kannte. Und in ihr steckte der Füller, den ich ihm dazu geschenkt hatte.
Den Raum zu betreten kostete Überwindung. Aber nachdem die Vorhänge beiseite gezogen und die Fenster geöffnet waren, ging es einigermaßen.
Es sah im Grunde alles so aus wie immer, ja, eigentlich noch wie zu jener Zeit, als ich hier gelebt hatte. Das ungemachte Bett mit Shiros geliebter roter Bettwäsche bezogen, Kleidung, die überall im Zimmer verstreut lag, eine leergetrunkene, billige Bardolino-Flasche, eine weitere, in der sich mal ein besserer Chablis befunden hatte, jener, in dem ich das Getränk unseres Austern-Abends wiedererkannte.
In einer hölzernen Kiste, die als Nachttisch diente, fand ich diverses Sex-Spielzeug. Das war ebenso neu für mich, wie die Musikauswahl in einem mir unbekannten, grottenhässlichen Plexiglas-CD-Ständer.
Ich hatte die Kladde an mich genommen und begonnen darin zu blättern.
Eine hübsche, geschwungene, fast schon kalligrafisch anmutende Schrift, passend zu seinem zierlichen Körperbau, seiner Feingliedrigkeit. Es machte mich traurig...
Schuldbewusst hatte ich darin zu lesen begonnen, schließlich handelte es sich um so etwas wie ein Tagebuch, doch dann überwog mein Interesse.
Daniele musste viel Zeit in das Verfassen der einzelnen Texte investiert haben.
In einer mir nicht nachvollziehbaren Reihenfolge hatte er unterschiedliche Stationen seines Lebens herausgegriffen und zu Texten verfasst. Zwar auf seine typisch schräge Daniele-Art, was aber der Glaubwürdigkeit des Geschriebenen keinen Abbruch tat.
Vieles, was sich bis dahin nur erahnen ließ, gewann plötzlich an Deutlichkeit, erschuf schlimmstenfalls konkrete Bilder. Bilder, die einem nicht gefallen konnten. Harte, böse Bilder...
Er hatte ganze Arbeit geleistet.
Die Kladde besaß Macht.
Das zeigte schon das fahrige Querlesen.
Um so gespannter war ich darauf, zwischen den Zeilen lesen zu können. Denn, das erwartete ich von einem Daniele Text: Den Inhalt zwischen den Zeilen.
Ich sollte nicht enttäuscht werden...
·
Hallo Buch!!!
Nimmst du ein Skalpell, erhältst du einen schönen sauberen Schnitt, der schön verheilt. Nimmst du einen Cutter, dauert das länger. Der Reiz liegt da in der Schorfbildung. Natürlich hängt es in beiden Fällen davon ab, in welchem Zustand sich die Klingen befinden. Und das Gefühl unterscheidet sich. Das Skalpell ist ja dafür gemacht. Also ist es sanft und glatt. Es streichelt dich und kann auf dir malen. Der Cutter hinterlässt ein Gefühl der Reibung. Und er klingt lange nach. Manchmal ist das von Vorteil. Auf jeden Fall ist es nachhaltiger. Ich mag beides. Aber nur das Skalpell überrascht mich.
·
»Sie hat mich Monster genannt...«
Shiro saß schluchzend auf dem Beifahrersitz. Seit Danieles Tod war es das erste Mal, dass er die Fassung verlor. Ich beschleunigte den Wagen, um so schnell wie möglich Distanz zwischen uns und den Friedhof zu bringen.
Es fehlten mir die Worte, um ihn zu trösten. Ich fand einfach keine.
Was gesagt worden war, stand im Raum. So falsch es auch war...
»Sie weiß es nicht besser...«, versuchte ich es irgendwann, mit einem vorsichtigen Seitenblick zu ihm, »...Das ist dir klar, oder?«
Er nickte zaghaft, aber das 'Monster' saß tief und schmerzte.
»Ich möchte noch nicht zurück, Luca...« Seine Stimme klang etwas gefasster. »Geht das?«
Eigentlich - nein - ging es nicht, Chip rechnete fest mit uns. Doch auf der anderen Seite: Ich hatte noch was gut, da ich an Rebeccas Hochzeit eine Menge Druck von ihr genommen hatte. Also konnten wir uns etwas Zeit lassen.
»Ich denke schon?«, sagte ich daher, »...Wo möchtest du hin?...«
»Ich wüsste da schon was...«
·
Ricardo zu besuchen war eine typische Shiro-Idee.
Ricardo lebte in Ravenna. Er war in jener Zeit unser Freund geworden, als der Rest unserer Welt frisch in Trümmern lag.
Bei ihm hatten wir ein Dach über dem Kopf gefunden, uns wohlgefühlt, geborgen und sicher. Ohne Ricardo wären wir vermutlich niemals in Genova gelandet, denn auf diese Idee war er gekommen, und auch bei unserer Suche nach einer Unterkunft hatte er uns geholfen. Wir hatten ihm
Weitere Kostenlose Bücher