Der Hexer - NR41 - Die phantastische Reise
nächsten Moment tauchte ich in die Wolken ein. Mit einem Male wurde aus der strahlenden Kristallsonne ein trübes, diffuses Halbdunkel. Feuchtigkeit schlug mir ins Gesicht und tränkte meine Kleidung. Ich bekam kaum noch Luft; meine Augen brannten wie Feuer. Dann war es vorbei. Die Wolkendecke lag hinter mir.
Und der nächste Alptraum begann.
Jetzt sah ich, was mich am Ende meines Weges erwartete. Und obwohl ich schon geglaubt hatte, auf den Anblick vorbereitet zu sein, schrie ich gellend auf.
Kein Meer. Kein Wunder, das ein gnädiger Gott im letzten Moment gewirkt hätte, um mich zu retten.
Unter mir erstreckte sich eine unendliche, nebeldurchzogene Landschaft; eine urzeitliche Welt im Dämmerlicht mit gewaltigen, feuerspeienden Bergen, bizarren Schluchten und seltsam flach gewölbten schmutzigweißen Hügeln.
Ein Land unter der Erde... merkwürdig – irgendwie schien mir dieser Anblick vertraut; wie ein Déjà-vu, ein Traumbild, das ich schon einmal zu sehen geglaubt hatte...
Dann erkannte ich Sill tief unter mir, und der Gedanke entglitt mir wieder.
»SILL!«
Ich sah, wie sie dem Boden entgegenstürzte, wie sie plötzlich, kurz vor dem tödlichen Schlag, auf den Rücken gewirbelt wurde und zu mir hinaufzublicken schien. Ich wußte nicht, ob sie mich sehen konnte in dieser letzten Sekunde. Ich wußte nicht, wo ihre Gedanken jetzt weilten, ob sie bei mir waren, der ich mit meiner Unbedachtheit unseren Tod heraufbeschworen hatte. Ich wußte nur, daß mir in jenem Augenblick das Herz brach. Daß ich meine Augen schloß, um den Anblick nicht ertragen zu müssen.
Mich trennten nur knapp zehn Sekunden von Sills Schicksal, und doch schien es mir, als würden Ewigkeiten vergehen. Ich preßte die Augenlider fest aufeinander, rollte mich zusammen wie ein Kind im Leib der Mutter.
Und dann: Ruhe. Ausgeglichenheit.
Eins sein mit dem Universum.
Kein Schmerz. Keine Trauer.
Und schließlich: der Aufprall.
* * *
Der Kreis aus geduckten, bleichen Gestalten öffnete sich, und ein Mann, der sich nur durch eine Halskette aus kleinen, dünnen Knochen und Zähnen von den anderen unterschied, trat dicht an Wells heran. In einer vorsichtigen, zögernden Geste streckte er den rechten Arm aus und strich über Georges nackte Brust.
George Wells bäumte sich angewidert auf, als die langen, mehrfach gewundenen Fingernagel seine Haut berührten, doch er konnte sich kaum eine Handbreit bewegen. Man hatte ihm das Hemd vom Körper gerissen und ihn mit Armen und Beinen an ein Ding gefesselt, das ihm im ersten Moment wie ein überdimensionaler Schädel erschienen war. Und von dem er langsam begriff, daß er sich mit seiner ersten Vermutung – so unglaublich sie ihm auch jetzt noch erschien – keineswegs getäuscht hatte.
Ein gigantischer Totenkopf paßte einfach in die Szenerie, die ihn umgab: mit riesigen Farnen gedeckte Lehmhütten inmitten einer Landschaft, wie er sie nur aus naturwissenschaftlichen Büchern kannte.
Ferne, feuerspeiende Berge, bizarre Felsformationen aus erstarrter Lava, eine nebeldurchwogte Talebene, in die er von der Kuppe eines Hügels hinabblickte und in der sich Wesen tummelten, die er zunächst seiner überreizten Phantasie angerechnet hatte – zottige Mammuts mit langen, gebogenen Stoßzähnen, Raubkatzen, groß wie Pferde, die sich an eine Gruppe von Tieren heranpirschten, die ins Gigantische vergrößerten Ratten ähnelten.
Und der Tempel.
Ein Bauwerk, so gigantisch wie die Natur ringsum, aus schwarzem Basalt gefertigt und von Hunderten von Fackeln umringt, das sich im Zentrum des Dorfplatzes erhob und wie ein böser, drohender Fremdkörper inmitten der primitiven Hütten wirkte. Ein Gebäude, das ihm mehr Furcht einflößte als diese urzeitliche Welt.
Und dabei wußte George Wells nicht einmal, wie er hierhergelangt war. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war der Angriff Dutzender dieser bleichhäutigen Wesen, die über ihn hergefallen waren, kaum daß er seine vermeintliche »Vision« berührt hatte. Und daran, daß etwas Hartes, Spitzes seinen Nacken getroffen und ihn aus dem Grauen in eine gnädige Ohnmacht gerissen hatte.
Nun war er hier – in einem Land, das es einfach nicht geben durfte. Es mußte früher Abend sein, denn das Licht, das durch die tiefhängenden Wolken sickerte, war trüb und besaß kaum Kraft genug, ihn das unheimliche Tal erkennen zu lassen.
Das dürre, bleiche Wesen vor ihm tastete nach Georges bartlosem Kinn und zuckte zusammen, als George sich in seinen
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