Der Hexer und die Henkerstochter
Mönchskutte, eine fleckige Bibel und eine Geißel, an deren mit Blei gespickten Seilenden noch getrocknetes Blut klebte. Angewidert drehte der Scharfrichter die unterarmlange Peitsche in seinen Händen. In Schongau verwendete er ein ähnliches Instrument, um mehrmals verurteilte Galgenvögel aus der Stadt zu prügeln. Die Vorstellung, dass sich jemand freiwillig dieser schmerzhaften Prozedur aussetzte, fiel Kuisl schwer. Welche Phantasien peinigten den fetten Cellerar, dass er sie mit dieser Geißel austreiben musste? Allerdings hatte der Henker auch schon davon gehört, dass es Menschen gab, denen solche Qualen Spaß machten. In seiner Schongauer Folterkammer war ihm allerdings noch nie so einer begegnet.
Enttäuscht legte Kuisl die Geißel zurück in die Truhe, schloss diese sorgsam und ging zurück in den Gang. Dann drückte er die Klinke zur nächsten Mönchszelle.
Auch diese war nicht abgeschlossen. Kuisl ging hinein und machte die Tür hinter sich zu, um zufällig Vorbeikommende nicht misstrauisch zu machen. Neugierig sah er sich um. In dem kargen Raum befanden sich exakt die gleichen Möbelstücke wie in der vorherigen Kammer; der Tisch jedoch war bis auf eine Kerze, eine Feder und ein Tintenfass leer.
Als Kuisl die Truhe am Boden öffnen wollte, stellte er fest, dass sie diesmal verschlossen war. Routiniert kramte er in seinen Taschen unter der stickigen Mönchskutte. Er hatte mit derartigen Problemen gerechnet und sich deshalb vom Erlinger Schinder noch ein paar Eisenstücke zurechtbiegen lassen.
Mit zusammengepressten Lippen bohrte der Henker in dem Schlüsselloch, bis ein leises Schnarren erklang. Das Ganze hatte nicht länger als zwei Minuten gedauert. Grinsend öffnete Kuisl den Deckel und zog zunächst eine wei tere Kutte aus der Truhe hervor. Ein leichter, fast nicht mehr wahrnehmbarer Duft von Rosenöl wehte ihm entgegen.
Unter der Kutte lag ein dünnes Büchlein, das von einem gewissen Ovid verfasst war. In geschwungenen Lettern lehrte es laut Titel nichts Geringeres als die Ars amatoria, die Liebeskunst. Kuisl hatte weder von dem Dichter noch von dem Buch je etwas gehört, doch als er die lateinischen Verse durchblätterte, stellte er schnell fest, dass sie erotischen Inhalts waren. Der Henker hielt seine große Nase an Kutte und Buch und schnupperte ausgiebig. Der Geruch nach teuerem Parfum, den er vorher wahrgenommen hatte, ging von keinem der beiden Gegenstände aus. Wie ein Hund beugte sich Jakob Kuisl nun über die Truhe und schnüffelte weiter. Der Duft kam eindeutig von dort. Entweder er war in das Holz eingedrungen oder …
Plötzlich stutzte der Henker. Er sah die Truhe von außen an, dann wieder von innen. Kein Zweifel, sie war nicht so tief, wie sie sein sollte. Mit einem der Eisenhaken stocherte er in der Ritze zwischen Boden und hinterer Seitenwand, als der hölzerne Untergrund mit einem Mal nachgab und sich nach oben klappen ließ. Unter dem doppelten Boden lagen etliche Bündel von Briefen, die je zu einem Dutzend mit seidenen Bändern verschnürt waren. Ein intensiver Geruch nach Rosen entströmte ihnen.
Schau an, liebes Mönchlein , dachte Kuisl grimmig. Was immer du für ein Geheimnis hütest, jetzt wird es gelüftet.
Vorsichtig horchte Jakob Kuisl, ob sich jemand im Gang näherte. Doch alles, was er vernahm, waren die leisen Stim men der Pilger, die in der Kirche das Glaubensbekenntnis sprachen. Bis zum Ende der Messe waren es bestimmt noch fünfzehn Minuten.
Mit spitzen Fingern zog der Henker einen der Briefe unter dem Seidenband hervor und öffnete ihn. Es war ein Liebesbrief, der sich in heißen Schwüren und Bekenntnissen an keinen anderen als den Novizenmeister Pater Laurentius wandte. Kuisl überflog die Zeilen, bis er bei der Unterschrift angelangt war.
»Dein Dich über alles liebender Vitalis …«
Nachdenklich rieb Jakob Kuisl das parfümierte Papier zwischen seinen Pranken. Tatsächlich, der Gehilfe des Uhrmachers! So wie es aussah, waren sich Vitalis und der Novizenmeister mehr zugetan gewesen, als es sich für keusche Benediktiner gehörte. Hatte Pater Laurentius vielleicht seinen Geliebten ermordet, weil der ihn verraten wollte? Steckte er auch hinter der Entführung des Uhrmachers? Wie auch immer – die Briefe aus dem Geheimversteck waren tödliches Gift in den Händen von Menschen, die bereit waren, sie skrupellos einzusetzen. Kuisl selbst hatte zwar noch keinen sodomitischen Mönch hingerichtet, aber er wusste von anderen Fällen, dass solchen
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