Der Hexer und die Henkerstochter
im Unterholz. Mit einem Mal konnte Magdalena verstehen, warum ihr Vater solche Orte gern zum Nachdenken aufsuchte.
Alles hektische menschliche Treiben war hier zu einem jähen Ende gekommen. Die gespenstische Ruhe schuf Platz zum Träumen, Grübeln und Sinnieren.
Magdalena sah sich um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Einige hundert Schritt zur Linken verlief die Feldstraße, auf der gerade ein Fuhrwerk entlangrumpelte; weiter entfernt ragte das Kloster in den weiß-blauen Himmel des frühen Nachmittags. Sollte sie sich doch getäuscht haben?
Plötzlich ertönte ein Rascheln hinter ihr. Als Magdalena sich umwandte, stand neben einem der Weißdornbüsche der Schongauer Henker. Wie ein Geist war er aus dem Nichts aufgetaucht. Beiläufig klopfte er seinen Mantel ab, an dem ein paar Disteln hingen.
»Vater!«, rief Magdalena erleichtert. »Ich hab gewusst, dass ich dich hier treffen werde!«
»Kluges Mädchen.« Jakob Kuisl grinste. »Bist halt doch meine Tochter. Wir müssen reden, ich …« Er stutzte, als er die Angst in ihren Augen sah.
»Was ist geschehen?«, fragte er und kam misstrauisch auf sie zu.
»Der Peter und der Paul … Sie sind verschwunden.« Magdalena hatte Mühe, nicht laut loszuheulen. »Der Hexer hat sie in seiner Gewalt!«
Mit zitternden Fingern zog sie den Brief unter ihrem Rock hervor und reichte ihn ihrem Vater. Als Jakob Kuisl ihn gelesen hatte, krallte sich seine Hand um das Stück Papier, als wollte er Blut daraus pressen. Sein Gesicht war grau wie Fels, die Stimme leise und tonlos.
»Das wird er bereuen«, flüsterte er. »Bei Gott, das wird dieser Drecksack bereuen. Keiner entführt ungestraft die Enkel des Schongauer Scharfrichters.«
Magdalena seufzte, sie hatte sich wieder einigermaßen unter Kontrolle. »Wüste Drohungen bringen uns jetzt auch nicht weiter«, sagte sie entschlossen. »Zunächst müssen wir gemeinsam überlegen, wo die Kinder sein könnten. Ich versteh ohnehin nicht, wie sie so plötzlich verschwinden konnten! Eben waren sie noch im Klostergarten, und dann …« Unvermittelt sah sie sich um. »Wo ist denn eigentlich der Simon? Und überhaupt, was habt ihr zwei bloß wieder angestellt? Halb Andechs scheint euch mittlerweile zu suchen!«
»Wir haben uns leider aus den Augen verloren«, brummt e der Henker. Er schien ein klein wenig verlegen. »Diese verdammten Semers haben mich auf dem Kirchplatz erkannt.«
Er erzählte ihr von der Hostienweisung, der anschließenden Flucht und dem Kampf am Rand des Kientals.
»Aber der Simon lebt«, schloss er beruhigend. »Ich hab ihn selber noch unten in der Schlucht gehört.« Er runzelte die Stirn. »Merkwürdig ist nur, dass er bislang nicht wieder aufgetaucht ist.«
»Vielleicht haben ihn ja die Büttel geschnappt«, murmelte Magdalena. Sie schüttelte den Kopf. »So oder so, wir müssen uns überlegen, was wir tun sollen. Der Hexer hat uns ein Angebot gemacht. Wenn wir aufhören, ihm nachzuspüren, dann …«
»Und das glaubst du ihm?« Jakob Kuisl spuckte verächtlich zu Boden. »Nach allem, was dieser Wahnsinnige schon angestellt hat? Einen Dreck wird er tun! Der gibt die Kinder niemals frei. Nicht mal, wenn wir versprechen, auf der Stelle wieder nach Schongau zu reisen. Der nimmt sie als Faustpfand, und wenn er hat, was er will, bringt er sie um wie zwei junge Hasen. Dreht ihnen den Kragen um und lacht dabei.«
»Das … das darfst du nicht sagen!« Magdalena war erneut den Tränen nah. »Wenn das wahr ist, sind meine Buben verloren!«
Der Henker starrte ins Leere und ließ dabei die Knöchel seiner Finger knacken. Magdalena kannte das Geräusch nur allzu gut. Es war ein Ritual, das Kuisl immer vor den Hinrichtungen pflegte.
Oder wenn er sehr angestrengt nachdachte.
»Wenn die Kinder noch leben, dann weinen und greinen sie«, sagte er schließlich leise. »Also muss er mit ihnen irgendwohin, wo sie keiner hört. Ich bin sicher, diese Drecksau ist irgendwo in diesen Gängen unter dem Kloster. Ein hervorragendes Versteck, wenn man zwei schreiende Bälger dabeihat. Und wenn er nicht zu uns kommt und uns die Kinder freiwillig gibt, dann müssen wir eben zu ihm.« Noch einmal knackten die Knöchel. »Wie ein Dachs, der sich in seinem Bau versteckt. Den musst du ausräuchern oder ihm die Hunde auf den Hals hetzen. Ich werd diesen Hexer jagen, bis ihm die Eingeweide aus dem Maul hängen.«
»Selbst wenn die Kinder irgendwo dort unten sind«, gab Magdalena zu bedenken. »Du vergisst, dass wir immer
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