Der Hexer und die Henkerstochter
ringsumher. »Die haben hier jeden Stein umgedreht! Jeden Stein!«
Magdalena sah, dass die Adern an Graetz’ Stirn rot angeschwollen waren. Er zitterte am ganzen Leib. »Haben mich gefragt, wo dein Vater und der Simon sind. Aber gesagt hab ich denen nichts! Das sollen die mir erst mal beweisen, dass der Kuisl hier gewohnt hat.« Sein Gesicht war jetzt rot vor Zorn.
Er stellte einen Stuhl auf und setzte sich müde hin. »Mit uns armen Leuten kann man es ja machen!«, jammerte er. »Schau nur, was sie angerichtet haben. Die gesamte Aussteuer meiner verstorbenen Frau ist hinüber. Im Grab würd sie sich umdrehen, wenn sie das wüsste!«
»Graetz«, begann Magdalena, die nach ihrem langen Lauf noch immer um Atem rang. »Ich brauch deine Hilfe. Die … die Kinder sind weg.«
»Die Kinder?« Der Schinder sah sie fragend an. »Was soll das heißen, sie sind weg?«
Magdalena rang um Fassung, Tränen liefen ihr über das verschwitzte Gesicht. »Ich … ich war drüben im Klostergarten«, brach es aus ihr heraus. »Eben noch haben sie zwischen den Beeten gespielt. Und plötzlich waren sie verschwunden! Ich glaub, dass sie vielleicht in die Schlucht gefallen sind, oder … oder dass dieser Verrückte sie in seiner Gewalt hat.«
»Du meinst, dieser Hexer? Warum sollte er so was tun?«
In kurzen, abgehackten Sätzen berichtete Magdalena dem Schinder von den Anschlägen auf sie und von ihren Befürchtungen.
»Ich glaub, der Hexer mag nicht, dass wir hier rumschnüffeln«, erklärte sie aufgeregt. »Er hat schon ein paarmal versucht, mich aus dem Weg zu räumen. Und nun hat er es vielleicht auf die Kinder abgesehen!«
Gerade eben wollte Michael Graetz zu einer Erwiderung ansetzen, als es erneut an der Tür klopfte. Der Schinder zuckte zusammen.
»Himmelherrgott, das werden doch nicht noch mal diese Drecksäcke sein!«, fluchte er. »Sieh dich vor. Wenn die immer noch deinen Vater suchen, kannst du dich auf ein paar unangenehme Fragen gefasst machen. Am besten, die Büttel sehen dich gar nicht erst.«
Er bedeutete Magdalena mit einer Geste, in der Kammer nebenan zu verschwinden, doch die Henkerstochter schüttelte nur den Kopf.
»Wenn sie es wirklich sind, soll es so sein«, sagte sie leise, aber entschlossen. »Lass sie nur kommen. Die werden mich auch nicht davon abhalten, meine Kinder zu suchen.«
Achselzuckend ging Michael Graetz zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Als er sah, wer dahinter stand, atmete er erleichtert aus.
»Ach, du bist’s nur, Matthias. Komm herein. Wir haben …«
Doch ganz plötzlich stockte der Schinder. Er sah nach unten, wo Matthias einen gefalteten Zettel in den Fingern hielt. Die Miene des Gesellen war ausdruckslos, nur seine Lippen zitterten leicht.
»Was ist, Matthias?«, fragte Magdalena und kam näher. Sie spürte eine böse Vorahnung in sich aufsteigen. »Was hast du da in der Hand?«
»Mmmm … aaa … eeena.«
Die Henkerstochter blickte den stummen Gesellen ratlos an.
»Was sagst du?«, fragte sie ihn.
»Mmmmm … aaa … eeena, Mmmmm … aaa … eeena!«, wiederholte Matthias monoton und kam zögernd auf sie zu. Er hielt ihr den gefalteten Zettel entgegen. Erst jetzt begriff Magdalena, dass der Geselle ihren Namen ausgesprochen hatte.
»Der … der Brief ist für mich?«, flüsterte sie. Ihr Herz begann wild zu klopfen.
Der stumme Geselle nickte und reichte ihr mit einer leichten Verbeugung den Brief.
Magdalena öffnete ihn. Es waren nur einige wenige hingekrakelte Worte, doch sie reichten aus, um der Henkerstochter den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Kalkweiß ließ sie sich auf den Stuhl fallen und starrte auf die Zeilen vor ihr.
Es war ein kleines, böses Gedicht.
Schlaf, Kindlein, schlaf, deine Mutter war nicht brav!
Sie schnüffelt wie ein Gassenhund, das ist fürs Kindlein ungesund.
Schlaf, Kindlein, schlaf!
Spiel, Kindlein, spiel, Großvater weiß zu viel.
Hört er nicht gleich das Schnüffeln auf, hängt mich sehr bald der Hexer auf.
Spiel, Kindlein, spiel!
»Was hast du, Magdalena?«
Michael Graetz war jetzt nahe an sie herangetreten. Über ihre Schulter hinweg entzifferte er mühsam die paar Worte, während die Henkerstochter wie gelähmt auf ihrem Stuhl verharrte.
»Mein Gott!«, hauchte Graetz schließlich. »Du hast recht gehabt. Dieser Wahnsinnige hat sich tatsächlich die Buben geschnappt!«
Zornig wandte er sich an seinen Gesellen. »Wo hast du den Brief her?«, schrie er beinahe. »Sag schon, wer hat dir den
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