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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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verehrt worden, Generationen von Pilgern haben ihren Glauben in sie einfließen lassen. Diese zerriebenen Oblaten sind der Mittelpunkt einer der größten Pilgerstätten Europas!«
    Virgilius lachte leise und schüttelte die Flasche, so dass die winzigen Krümel in dem Wasser zu tanzen begannen. »Ist es nicht erstaunlich? Eigentlich ist es nur gebackenes Mehl. Ebenso wie auch alle anderen Reliquien nur leblose Ge­genstände sind. Rostiger Tand, wertlose Knochen und alte fleckige Tücher, die beinahe zu Staub zerfallen. Aber wir Menschen haben ihnen Leben eingehaucht, weil wir an sie glauben !« Sehnsuchtsvoll richtete er seinen Blick zur Decke. »Wie lange habe ich verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, meine Aurora zurückzuholen. Erst hier in Andechs stieß ich in der klösterlichen Bibliothek auf ein altes Buch, das sich der Beschwörung von Golems und der Erschaffung von Leben widmet. Ich machte mir Abschriften, studierte die jüdische Zahlenmystik, den Talmud, und endlich begriff ich!«
    Virgilius beugte sich hinunter zu Simon, dessen Lippen und Gesichtszüge unkontrolliert zu zittern begonnen hatten. Unvermittelt musste der Medicus an jenes jüdische Buch denken, das er erst vor einigen Tagen auf dem Tisch des Abts gesehen hatte. Es musste eben jenes Werk gewesen sein, von dem Virgilius so feierlich sprach.
    »Wisst Ihr, wie die Rabbis ihre tumben Lehmdiener zum Leben erweckten?«, flüsterte der Mönch, nun ganz nah über dem zuckenden Gesicht Simons. »Sie legten ihnen ­einen Zettel in den Mund, auf dem der Name Gottes stand. Und dann beschworen sie den letzten Satz aus der Schöpfungsgeschichte.« Der Mönch schloss die Augen wie zum Gebet. »Und Gott blies ihm den lebendigen Atem in die Nase, und der Mensch erwachte zum Leben«, zitierte er leise.
    Kichernd richtete Virgilius sich wieder auf. »Versteht Ihr? Nur Gott, nicht der Mensch vollbringt dieses Wunder! Aber wir können ihm dabei helfen. Die Juden haben das viel früher verstanden als wir Christen. Ich habe die Schriften studiert und mein eigenes Buch geschrieben. Nun endlich weiß ich, was zu tun ist.«
    Summend ging er zu einer verschlossenen Truhe, öffnete sie und zog daraus ein seidenes Cape und eine mit Stoff­ blumen verzierte Haube hervor. Liebevoll legte er den Um ­hang um Auroras Schultern, und befestigte dann die Haube auf ihrer Perücke.
    »Der große Tag ist gekommen, Aurora!«, hauchte Virgilius feierlich. »Wie lange habe ich darauf gewartet! Glaube und Wissenschaft, die Blitze und die Hostien. Gemeinsam schaffen sie neues Leben!« Er zog einen Kamm hervor und begann die Haare seines Automaten sorgfältig zu bürsten. Die Puppe lächelte steif unter ihrer Haube und ließ die Prozedur klaglos über sich ergehen.
    »Dieser störrische Apotheker wollte nicht hören«, murmelte Virgilius wie zu sich selbst. »Wollte mir nichts mehr über seine Blitzexperimente erzählen. Da beschloss ich, seine Schriften zu stehlen, um sie in Ruhe studieren zu können. Ich weihte Vitalis in meine Pläne ein, doch leider hat der dumme Gehilfe des Apothekers, dieser Coelestin, uns oben auf dem Turm beobachtet. Kleines neugieriges Wiesel! Hat gesehen, wie wir mit Drähten und einer toten Ziege expe­rimentiert haben.« Die hektischen Bewegungen des Uhr­machers wurden heftiger, der Puppe fielen nun einzelne Strähnen aus.
    »Sag selbst, Aurora«, zischte Virgilius. »War es nicht mein gutes Recht, ihn aus dem Weg zu räumen? Zu viel stand auf dem Spiel! Und als dann dieser Weichling von Vitalis zum Abt gehen wollte, musste ich ihn da nicht ebenso entfernen? Für dich! Ich habe das alles doch nur für dich getan! Sag selbst, wie kann man mich einen Mörder nennen, wenn ich doch nur aus Liebe gehandelt habe?«
    Virgilius’ Stimme überschlug sich, außer sich vor Zorn warf er den Kamm zu Boden und atmete schwer. Erst nach einer Weile beruhigte er sich wieder, und ein feines Lächeln erschien auf seinen Lippen.
    »Nachdem ich Vitalis erschlagen hatte, kam mir endlich der rettende Gedanke«, fuhr er kichernd fort. »Die Idee, wie ich mich all meiner Sorgen gleichzeitig entledigen konnte! Ich übergoss Vitalis mit Phosphor, entführte mich selbst und schob dem Apotheker die Schuld in die Schuhe. Sein Okular lag direkt neben den Schriften. Ich musste es nur neben Vi­talis’ verbrannte Leiche legen.« Virgilius nickte, als hätte sein Automat etwas er­widert. »Du hast recht, Aurora. Johannes hat es verdient, der hässliche Bastard! Genau wie

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