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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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Felsboden gefesselt. Schließlich musste Magdalena einsehen, dass Simon es ohne ihre Hilfe nicht schaffen würde. Sie packte ihn unter den Achseln und zog ihn keuchend zu sich empor, bis er endlich mit kreidebleichem Gesicht vor ihr an der Wand lehnte. Um sie herum knisterte das Feuer, die bläulichen Flammen fraßen sich jetzt durch die umgestürzten Regale und zerborstenen Apparaturen, nur eine schmale Bahn führte noch zwischen den Brandherden hindurch zum Ausgang.
    »Du musst dich an mir festhalten!«, rief Magdalena gegen das Prasseln des Feuers an. »Verstehst du mich, Simon? Halt dich an mir fest!«
    Sie drehte ihm den Rücken zu, bückte sich und zog seine Arme über ihre Schultern. Schließlich richtete sie sich keuchend auf und schleppte ihren Mann wie einen Sack Mehl durch das Flammenmeer.
    Mit gerade mal fünf Fuß war Simon in Schongau einer der zierlichsten Männer; oft hatte seine Größe bei den ­anderen groben Mannsbildern für Spott gesorgt, zumal Magdalena ihren Gatten tatsächlich um einige Fingerbreit überragte. Doch nun zeigte sich, dass seine grazile Statur dem Medicus wohl das Leben retten würde. Magdalena kam sich vor wie ein Packesel, aber wenigstens gelang es ihr auf diese Weise, Simon Schritt für Schritt aus dem brennenden Raum zu ­zerren.
    Sie taumelte durch die zweite Kammer mit dem Himmelbett und der Frisierkommode, auch hier leckten die Flammen bereits an dem wertvollen Nussfurnier. Endlich erreichte Magdalena keuchend das runde Portal, während irgendwo hinter ihr ein weiteres Regal mit lautem Bersten umstürzte und das elfenbeinerne Horn, den Globus und das bronzeschimmernde Astrolabium unter sich begrub. Erleichtert spürte die Henkerstochter, dass Simon sich mittlerweile aus eigener Kraft an ihr festhalten konnte. Auch seine Beine bewegten sich leicht hin und her. Die Lähmung schien tatsächlich nachzulassen!
    Hustend blickte Magdalena in den rauchverhangenen Gang, durch den sie vor einigen Minuten erst gekommen war. Ihre Fackel hatte sie aus dem brennenden Raum nicht mitnehmen können, doch das war auch nicht nötig. Entsetzt stellte sie fest, dass auch auf dem Tunnelboden kleine Feuer brannten. Virgilius musste das Phosphorpulver überall in den Katakomben verstreut haben. Im gleichen Moment wurde Magdalena klar, was das bedeutete: Sobald die Flammen die Kloake mit dem Labor erreichten, flog hier alles in die Luft!
    Verzweifelt sah sie sich nach ihrem Sohn um, konnte ihn aber zwischen den Rauchschwaden nicht finden. Was mit ihrem zweiten Kind war, mochte sich Magdalena gar nicht vorstellen. Sie konnte nur hoffen, dass Peter die Wahrheit gesagt hatte und der kleine Paul mit dem verräterischen Matthias irgendwo dort draußen in Sicherheit war.
    »Peter!«, schrie sie, während ihr Mann noch immer zentnerschwer auf ihren Schultern lastete. »Peter, wo bist du?«
    Ein Weinen war zu hören, schließlich ein leiser Ruf. »Mama, Mama, hier bin ich!«
    Magdalena lauschte. Der Schrei war nicht von rechts gekommen, dort wo der Gang zur Höhle der Eremitin führte, sondern von links! Peter war in die falsche Richtung gelaufen, sie musste ihn schnellstmöglich zurück­holen! Wenn sie sich zu lange hier unten aufhielten, waren sie alle zusammen rettungslos verloren. Entweder sie verbrannten, oder der Rauch würde sie unweigerlich ersticken!
    Fluchend und um Atem ringend, taumelte Magdalena in die grauen, stinkenden Schwaden hinein, ihre Augen tränten vom Rauch, und Simons Gewicht drückte sie schier zu Boden. Trotzdem ging sie langsam, Meter für Meter, weiter, während sie immer wieder nach ihrem verschwundenen Sohn rief: »Peter! Peter, hier bin ich!«
    Der feuchte, niedrige Gang führte schon bald leicht aufwärts; schon nach kurzer Zeit stellte Magdalena erleichtert fest, dass die brennenden Phosphorhaufen weniger wurden und schließlich ganz ausblieben. Hinter ihr ertönte ein Krachen und Bersten, als das Feuer eine weiter entfernte Wand zum Einsturz brachte. Die Rauchschwaden griffen wie mit langen Fingern nach ihr, doch Magdalena hatte das Gefühl, dass auch sie hier weniger dicht waren. Von irgendwo vor ihr wehte ein frischer Luftzug. Offensichtlich hatte Peter intuitiv den richtigen Weg gewählt.
    Als sie um eine weitere Biegung getappt war, sah sie endlich ihren Sohn. Magdalena schrie auf vor Erleichterung, doch dann stockte ihr der Atem. Peter stand am Ende des Ganges, der nicht mehr weiterzuführen schien. Erst auf den zweiten Blick bemerkte die Henkerstochter die

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