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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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hinüber zu seiner kranken Frau. Fast dreißig Jahre waren sie nun zusammen; Kuisl hatte Anna-Maria damals aus einem Dorf bei Regensburg mitgenommen, das Söldner seines eigenen Regiments verwüstet hatten. Und auch, wenn sich die beiden oft anblafften und anknurrten wie zwei alte Köter, so waren sie sich doch immer nah gewesen. Die Ausgrenzung durch die Schongauer Bürger, die Liebe zu ihren Kindern, die tägliche gemeinsame Arbeit – all das hatte sie zusammengeschweißt. Jakob würde es nie aussprechen, das musste er auch nicht, weil Anna es ohnehin wusste: Auf seine eigene bärbeißige Art liebte der Henker seine Frau mehr als sich selbst.
    Leise, um Anna-Maria nicht zu wecken, stand Jakob Kuisl vom Schemel auf. Er ging hinüber in die Kammer, wo sich der Arzneischrank, ein paar der Folterinstrumente und eine Truhe mit seinen alten Waffen aus dem Krieg befanden. Kuisl zögerte kurz, dann öffnete er den verwitterten, abgeschabten Kasten, der ihn die letzten vierzig Jahre begleitet hatte. Zuoberst lag die von Motten zerfressene Landseruniform, deren einst grelle Farben mittlerweile blass und ausgewaschen waren. Darunter befanden sich der Säbel, die Luntenschlossmuskete und zwei gut geölte Radschlosspistolen.
    Nachdenklich fuhr Kuisl über den Lauf der Pistole, während die Erinnerungen an früher auf ihn einprasselten. Er schloss die Augen und sah sich selbst an der Seite Nepomuks, seines besten Freunds, wie sie in erster Reihe gegen die Schweden marschierten …
    Eine gelbe Linie am Horizont, die schnell näher kommt … Trommeln und Pfeifen, dann die Schreie, wenn sich die Linie auflöst und in einzelne Menschen verwandelt. Feindliche Söldner, die mit langen Spießen, Schwertern und Degen gegen sie anrennen, dahinter die geschlos sene Reihe der Musketiere, das Mündungsfeuer, das Klagen und Jammern der Verwundeten und Sterbenden … Jakob riecht den Pulverdampf, er schaut hinüber zu Nepomuk, und er sieht die Angst in dessen Augen. Aber da ist noch etwas anderes, ein tierisches Funkeln, eine Schwärze, tief wie der Abgrund zur Hölle, und plötzlich merkt Jakob, dass er in einen Spiegel blickt.
    Was er dort sieht, ist die Lust am Töten.
    Jakob schüttelt sich, greift zum Schwert und schreitet auf die schreienden Feinde zu. Ruhig und mit klarem Blick verrichtet er sein Handwerk, das er doch niemals wieder ausüben wollte.
    Das Handwerk eines Henkers.
    Mit einem Krachen klappte Jakob Kuisl die Truhe zu, so als könnte er damit die Geister wegsperren, die er soeben geweckt hatte. Als er sich über die Stirn wischte, merkte er, dass sie feucht von kaltem Schweiß war.
    *
    Wie Tränen rannen die Regentropfen an den Butzenglasscheiben des Andechser Klostergasthofs entlang.
    Simon starrte hinaus in die Dämmerung, wo schemenhaft eine Gruppe singender Gestalten den Berg hinauf zur Abendmesse zog. Auch Magdalena hatte beschlossen, den Gottesdienst zu besuchen und für die Genesung ihrer beiden Kinder im letzten Jahr zu danken. Schließlich waren sie und Simon nur deshalb nach Andechs gekommen.
    Der Medicus seufzte leise. Diese Wallfahrt entwickelte sich mehr und mehr zu einem wahren Alptraum. Nicht nur, dass sie beide schon wieder in einen Mordfall verwickelt waren und sein brummiger Schwiegervater bald hier auftauchen würde – nun wurden auch noch immer mehr Pilger von einem merkwürdigen Fieber heimgesucht. Es ging einher mit Mattigkeit, Kopfschmerzen und Leibgrimmen. War dies etwa die gleiche Krankheit, die auch Magdalena zu schaffen gemacht hatte?
    Simon hatte der Bitte des Abts entsprochen und den ganzen Tag damit zugebracht, Kranke in einem Nebenbau des Klosters zu behandeln. Aus den drei oder vier Fällen war mitt­lerweile ein gutes Dutzend geworden. Viele von ihnen hatten rötliche Flecken auf der Brust und eine graugelb belegte Zunge. Die ersten Patienten hatte der Medicus noch umsonst behandelt, doch im Laufe des Tages war er dazu übergegangen, wenigstens von den besser betuchten Kranken ein paar Münzen zu verlangen.
    Nun hatte er einen Teil seines Verdiensts in einen Krug heißen Gewürzweins umgesetzt. Simon trank, lauschte dem Geklapper aus der Küche und brütete vor sich hin. Verzweifelt versuchte er sich einen Reim auf all die merk­würdigen Vorkommnisse der vergangenen zwei Tage zu machen, doch er kam keinen Schritt voran.
    Gerade wollte Simon sich einen neuen Becher einschenken, als ihn jemand an der Schulter berührte. Er drehte sich um und blickte direkt in das schmierig grinsende

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