Der Hexer und die Henkerstochter
um und rannte in der Finsternis Richtung Ausgang. Noch einmal rumpelte es. Simon stolperte, fing sich wieder und prallte mit der Stirn gegen die Kellertür. Ohne auf den Schmerz zu achten, tastete er panisch nach der Klinke. Endlich fand er sie, stürzte in den Treppenaufgang dahinter und konnte weiter oben mattes Mondlicht erkennen. Als er sich ein letztes Mal umwandte, sah er noch einmal das Glimmern ganz hinten im Bierkeller, dann hastete er die Stufen nach oben und blieb nicht eher stehen, bis er sich vor dem Sudhaus unter dem sternenklaren Nachthimmel befand.
Er war zurück unter den Lebenden.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Simon sich so weit beruhigt hatte, dass er einen vernünftigen Gedanken fassen konnte. Hatte er dort unten wirklich Hexerei gesehen? Sein Verstand versuchte ihm dies mit aller Macht auszureden, doch auf der anderen Seite war eine grünlich leuchtende Leiche selbst für einen studierten Medicus ein harter Brocken. Und was hatte dort unten gerumpelt? Hatten sich die beiden Toten erhoben, um sich an ihrem Mörder zu rächen?
Simon spürte, dass er noch nicht sofort zu Magdalena und den Kindern zurückkehren konnte. Zunächst brauchte er wieder einen halbwegs klaren Kopf. Wie gern hätte er jetzt einen Becher seines geliebten Kaffees getrunken, doch leider war dieses orientalische Gebräu in der Andechser Klostertaverne noch unbekannt. Außerdem hatte Simon keine Lust, dort möglicherweise auf den Schongauer Bürgermeister und seinen Sohn zu treffen. Und Jakob Kuisl war vermutlich immer noch bei seinem Freund Nepomuk in der alten Käserei. Wo also sollte er hingehen?
Sein Blick glitt über die teilweise erleuchteten Fenster des Klosters, als ihm der einzige Platz einfiel, der ihm ein bisschen Geborgenheit und vielleicht auch Aufklärung versprach.
Die Bibliothek.
Seit frühester Jugend liebte Simon Bücher. Sie waren für ihn wie Grenzsteine, die die Welt aufteilten in eine dunkle und eine helle Seite. Vielleicht konnten ihn die Bücher auch diesmal wieder auf die helle Seite zurückführen. In Büchern ließ sich für vieles eine Erklärung finden, vielleicht auch für einen grünlich leuchtenden Toten. Simon nickte entschlossen. Wenn ihn jemand in der Bibliothek ansprechen sollte, würde er einfach sagen, dass er noch an dem Bericht für den Abt arbeitete.
Er ging zurück zum Hauptbau, der um diese Zeit noch offen stand, und stieg die breiten Stufen in den zweiten Stock des Südtrakts empor, wo ein Gang zu einer hohen zweiflügligen Tür führte.
Ehrfurchtsvoll öffnete er sie und schaute ins Paradies.
Die fast vier Schritt hohen Wände waren bis zur Decke vollgestellt mit Nussholzregalen, in denen sich ein Buch ans andere reihte. Es gab armdicke, verstaubte Wälzer aus Pergament, neuere Folianten aus Papier und dünne Kladden, die mit roten Bändern verschnürt waren. Simon erkannte auf einigen der Buchrücken goldene Lettern, andere waren mit dünnen Krakeln beschriftet oder trugen einen schlichten Einband aus Leder. Der ganze Raum roch nach edlem Holz, Staub und jenem unbestimmten Duft, der von altem Pergament und Tinte ausging.
Simon musste unwillkürlich schlucken. So viele Bücher hatte er erst einmal im Steingadener Prämonstratenserkloster gesehen, und das war schon eine ganze Weile her. Vermutlich war hier in Andechs so viel Wissen archiviert wie sonst im gesamten Pfaffenwinkel nicht.
Langsam schritt der Medicus die Regale ab und warf einen Blick auf einzelne Titel. Er entdeckte Paracelsus’ »Große Wundarzney« und daneben eine fünfbändige Gesamtausgabe von Dioscurides’ »Materia Medica«. Ungezielt begann Simon darin zu blättern, merkte aber schon bald, dass er auf diese Weise nicht fündig werden würde. Nach einer Weile legte er die dicken Wälzer beiseite und begann wieder, an den Buchreihen entlangzuwandern.
Zu seiner großen Freude stieß er am Ende eines Regals in Kopfhöhe auf ein eher unscheinbares Büchlein, das offensichtlich die Andechser Klostergeschichte behandelte. Simon war sich im Klaren darüber, dass er darin nichts über leuchtende Leichen erfahren würde. Aber die Ereignisse der letzten Tage hatten ihm deutlich gemacht, dass dieses Kloster mehr als nur ein Geheimnis hütete. Vielleicht war die Lösung all dieser seltsamen Vorkommnisse ja in der Vergangenheit zu suchen.
Nach kurzem Zögern griff Simon nach dem Ledereinband und machte es sich an einem schweren polierten Kirschholztisch in einem gepolsterten Sessel gemütlich. Er
Weitere Kostenlose Bücher