Der Hexer und die Henkerstochter
Schindergeselle aus dem Gleichgewicht brachte. Außerdem setzten ihr die Kinder mehr zu, als sie zunächst angenommen hatte. Vor allem, wenn der Vater mit wichtigeren Dingen beschäftigt war.
Magdalena atmete die kalte Luft ein, dann beschloss sie, hinauf zum Kloster zu gehen und nach ihrem Gatten Ausschau zu halten. Es ärgerte sie, dass Simon mal wieder abends aus war, während sie sich um die Kinder kümmerte. Eigentlich hätte er schon längst wieder zurück sein müssen, möglicherweise würde sie ihn ja unterwegs treffen.
Vom Wirtshaus her wehte der Gesang betrunkener Männer zu ihr herüber. Auf den Feldern rund um das Dorf brannten hier und da kleine Feuer, viele Pilger verbrachten die Nacht im Freien. Mittlerweile hatten wohl mehrere Hundert Menschen zu Füßen des Heiligen Berges ihr Lager aufgeschlagen.
Magdalena machte einen Bogen um die Feuer und die freundlich leuchtende Gaststube und stieg den steilen Weg hinauf zum Heiligen Berg. Sofort wurde es stiller. Die Steinmauer des Klosters, auf der sie und Simon erst gestern Mittag noch in der warmen Sonne gesessen hatten, war jetzt ein schwarzes Band vor einem noch dunkleren Hintergrund. In den Hecken links und rechts des Weges knackste es, einmal glaubte Magdalena sogar Schritte zu hören. Sie hastete den Pfad entlang, bis sie endlich durch eine Pforte ins Innere des Klostergeländes gelangte. Auch hier war es im Gegensatz zum lauten Leben tagsüber seltsam ruhig, nur eine Glocke schlug irgendwo. Zwei Betrunkene kamen ihr von der Klostertaverne entgegen, aber selbst sie torkelten schweigend an ihr vorbei.
Schließlich hatte sie den Platz vor der Kirche erreicht und hielt nach Simon Ausschau. Wo mochte er nur sein? Eigentlich hatte er nur kurz mit ihrem Vater zum Abt gehen wollen, doch seitdem waren bestimmt drei Stunden vergangen! Hatten sie vielleicht gemeinsam den hässlichen Nepomuk im Kerker aufgesucht?
Grübelnd starrte Magdalena auf die Steinhaufen und Kalksäcke, die überall auf dem Vorplatz lagen. Handwerker hatten Gerüste an den Wänden der Kirche und am Portal aufgestellt, um von dort aus das Dach auszubessern. Ein Kater huschte maunzend über die Bretter, auf der Suche nach seiner Liebsten. Lächelnd blickte Magdalena nach oben, wo das Tier gerade in einer Mauerritze des Turms verschwand.
Mit einem Mal fiel ihr ein, dass sie immer noch nicht wusste, was die merkwürdige Konstruktion oben im Kirchturm zu bedeuten hatte. Sollte sie jetzt noch einmal nachsehen? Vielleicht würde sie auf diese Weise ja herausfinden, ob ihr Sturz vom Glockenstuhl wirklich nur ein dummer Zufall gewesen war.
Entschlossen öffnete Magdalena das Kirchenportal einen Spaltbreit und schlüpfte ins Innere. Die Kirche war menschenleer. Sie griff sich eine der flackernden Kerzen, die zu Dutzenden auf einem der vielen Nebenaltäre brannten, und stieg vorsichtig die Stufen zur Balustrade hinauf. Von dort führte die notdürftig geflickte Wendeltreppe weiter nach oben in den Turm.
Magdalena ging so weit wie möglich auf der Innenseite und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Die Dunkelheit hatte zumindest den Vorteil, dass sie im Licht der Kerze nur wenige Meter vor sich erkennen konnte. So blieb ihr der schwindelerregende Ausblick erspart. Schritt für Schritt stieg sie mit klopfendem Herzen in die Höhe, bis sie endlich die obere Plattform mit den drei Glocken erreicht hatte. Vorsichtig hielt sie die Kerze hoch und sah sich um.
»Was zum …?« Magdalena hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien.
Die Bahre mit den Metallklammern war verschwunden. Ebenso die Eisenstangen.
Um ganz sicherzugehen, umrundete die Henkerstochter die gesamte Plattform, doch die seltsame Konstruktion hatte sich tatsächlich in Luft aufgelöst. Nur noch ein Stück Draht baumelte von der Decke im Wind.
Magdalena schimpfte leise vor sich hin. Irgendjemand musste die Bahre in den letzten zwei Tagen entfernt haben! Jetzt würde sie wohl nie erfahren, was es mit der Apparatur auf sich hatte. Fluchend trat sie gegen eine der schweren Kirchenglocken, was das Eisen jedoch keinen Millimeter in Schwingung versetzte. Dann stieg sie wieder nach unten und verließ leise die Kirche, nicht ohne sich ein letztes Mal vor dem Hauptaltar mit den zwei Marienstatuen zu verbeugen.
Verzeih den späten Besuch, heilige Mutter Gottes , betete sie lautlos. Aber schließlich willst du doch auch wissen, was dort oben in deinem Turm vor sich geht. Oder weißt du es am Ende
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