Der Himmel so fern
Kleiderschrank, Schuhe und Taschen, Bücher und Schmuck … Birgitta hatte ihm dabei ihre Hilfe angeboten, doch das war nicht eilig. Andere Dinge waren wichtiger. So hatte sich seine Mutter ganz diskret der praktischen Dinge angenommen. Zum Beispiel den Termin mit der Polizei wieder aufgeschoben, als ein Beamter anrief. Und sie hatte weitere Telefonate erledigt, mit Behörden gesprochen und auch mit einem Bestattungsinstitut. Hatte den Termin festgelegt und Mikael einfühlsam über die Einzelheiten, die sie wirklich nicht wissen konnte, befragt. Wie er es sich vorstellte. Bislang war er über ihre Hilfe heilfroh gewesen. Sie hielt schwerwiegende Entscheidungen und unangenehme Fragen von außen wie ein Filter von ihm fern.
Die Tage flossen ineinander, die Nächte verbrachte er meist wach oder in einem unruhigen Dämmerschlaf. Wie viel Zeit wohl vergangen war? Vielleicht einige Wochen. Birgitta hatte ihren Besuch verlängert. Nach dem ersten Wochenende war sie heimgefahren und hatte die Reisetasche gegen einen richtigen Koffer getauscht. Sie kümmerte sich um ihn, versorgte ihn mit Essen, wenn er etwas hinunterbrachte, und verführte ihn mit leckeren Häppchen, wenn sein Appetit nachließ. Sie schirmte ihn vor Telefonaten ab, erklärte den Anrufern ruhig und geduldig, wie die Lage war, und richtete ihrem Sohn dann herzlichste Grüße und aufrichtige Anteilnahme aus. Morgens las sie laut das Fernsehprogramm aus der Zeitung vor, suchte sehr genau etwas aus und notierte sich dann die Zeiten der Sendungen, die er möglicherweise anschauen würde. Nur heitere Programme und fröhliche Gesichter. Wahrscheinlich wäre ein bluttriefender Actionthriller das Beste gewesen, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, doch sie setzten sich abends gemeinsam aufs Sofa, wo sich dann Comedyserien, musikalische Quizsendungen und inhaltslose Verwicklungskomödien mit Happy End abwechselten. Dieses ständige Lachen schnitt tief in seine Trauer. Meist entschied er sich, lieber mit seinem iPod aufs Bett umzuziehen. Dem Trost, den die Musik ihm zu geben vermochte, vertraute er, und so konnten ihn an vielen Abenden die Songs von Bruce Springsteen oder Mozarts Klavierkonzerte schließlich doch in den Schlaf wiegen.
Mikael versuchte zu entspannen, seinen Körper schwer werden und auf die Matratze sinken zu lassen. Er atmete langsam und tief, versuchte sich auf eine Art Hohlraum in ihm zu konzentrieren, doch mit geschlossenen Augen dauerte es meist nicht lang, dann zogen ihn die Gedanken fort, wie immer, wenn er die Kontrolle abgab. Doch dieses Mal waren es andere Bilder. Statt ihn zu quälen, zauberten sie ein Lächeln auf sein Gesicht.
Er erinnerte sich an eine Reise nach Griechenland. Sie waren auf Rebeckas Lieblingsinsel Patmos gefahren. Obwohl er schon viele Male in Griechenland Urlaub gemacht hatte, war er noch nie in diesem Teil des ägäischen Archipels gewesen. Er kannte die Zykladen, Paros, Mykonos, Santorini und die anderen Partyinseln, wo er mit Freunden, auch mit der einen oder anderen Freundin, gewesen war. Doch diese Insel, auf der Rebecka und er ihren ersten gemeinsamen Urlaub verlebten, hatte einen ganz anderen Charakter. Sie strahlte eine Ruhe und eine Würde aus, die ihm sonst in Griechenland nie aufgefallen war. Auf gewisse Weise passte sie zu Rebecka. Manchmal trieb ihn ihr Stolz in den Wahnsinn, doch als er sie auf dieser Insel betrachtete, war ihm, als spiegele die Insel seine Frau. Selbst als sie bei einem Wettrennen mit dem Motorrad zum Strand weit hinter ihm landete und er sie triumphierend zwang, ihn zum Essen einzuladen, tat sie das mit einer Würde, die die eines Gewinners war. Nicht einmal, wenn sie verlor, verlor Rebecka.
Das Bild, das er nun vor Augen hatte, zeigte gerade diesen Strand. Ein kleiner abgelegener Teil der Insel, wo nur wenige Urlauber waren und nur eine kleine Bar im Schatten einiger Bäume stand. Rebecka hatte vorher davon geschwärmt, sie hatte es einen magischen Platz genannt. Der ganze Strand sei voller runder, glatter Steine in phantastischen Farben und Mustern. Als sie dort waren, konnte er ihr nur beipflichten, und sie saßen dort wie Kinder lange am Wasser, hielten die Steine hoch und verglichen sie, einer schöner als der andere.
Die Zeit verging wie im Fluge, und als die Sonne sich senkte, weil es Abend wurde, wurde die Stille vom Lärm mehrerer Zweitakter, die sich über den Hügel näherten, unterbrochen. Eine Gruppe schwarzgekleideter Priester aus dem Dorf kam auf Mopeds angetuckert.
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