Der Himmel so fern
Grenzen. Das Glas war fast leer. »Ich glaube, jetzt gehe ich heim«, sagte er.
»Jetzt schon? Willst du keinen Kaffee? Oder etwas essen?«
»Nicht heute Abend.«
»Okay.« Stellan rollte das leere Glas zwischen den Handflächen hin und her.
»Du, ein Gedanke kam mir noch: Hast du mal mit Mette gesprochen?«
»Nein, nur das eine Mal, als ich dich auch angerufen habe. Und da war ich genauso kurz angebunden.«
»Wie wär’s, wenn du dich noch einmal mit ihr unterhältst? Vielleicht weiß Mette mehr oder hat ein paar Erklärungen. Und die Sache mit der Abtreibung …«
Mikael gab keine Antwort. Mette hatte einige Male angerufen und mit seiner Mutter gesprochen, die ihm dann ihre Grüße ausgerichtet hatte. Aber bisher war es ihm zu viel gewesen, sie zurückzurufen. Stellan hatte recht, vielleicht sollte er das jetzt tun.
»Und wie ist es zu Hause ohne Rebecka?« Stellans Frage unterbrach seinen Gedankenfluss.
»Leer. Ganz schrecklich leer. Ich muss pausenlos an sie denken. Ich wünschte, sie wäre hier, dann würde ich ordentlich mit ihr schimpfen.« Mikael lächelte ein wenig schief. »Das Sonderbare ist, dass ich überhaupt nicht an die Dinge denke, die anstrengend waren mit ihr, an meinen ganzen Frust. Na ja, du kennst das ja alles …« Er verstummte. Manches hatte er seinem Freund erzählt, manches hatte Stellan sich bestimmt zusammenreimen können, denn er nickte nachdenklich. »Ich denke fast nur an die Zeiten, in denen alles wunderbar lief. Wenn sie da war und ich mich geborgen und geliebt fühlte und sie glücklich war, nicht mit den Gedanken woanders. Es kommt vor, dass ich mitten in der Nacht aus einem Traum aufwache und ganz kribbelig bin vor Glück. So ist es in meiner Erinnerung. Das fühlt sich dann an wie kopfüber ohne Fallschirm tausend Meter tief zu fallen.«
»Vielleicht ist es gar nicht so verwunderlich, dass du dich gerade an diese Zeiten erinnerst. Denn genau die vermisst du auch.«
»Ja. Das Traurige ist nur, dass ich das schon getan habe, während sie noch lebte.« Mikael stand auf. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er kurz angebunden.
Stellan nickte. »Ich komme mit.«
»Nein. Entschuldige, ich will nicht undankbar sein, aber ich muss jetzt wirklich wieder allein sein.«
Stellan sah ihn sehr besorgt an, erwiderte aber nichts. Bevor sie sich verabschiedeten, fasste er Mikael noch einmal an der Schulter.
»Ich kann verstehen, dass du nicht anrufen oder reden kannst, dass es dir zu viel ist, aber bitte sei so nett und antworte auf meine SMS , damit ich wenigstens weiß, dass du noch am Leben bist.«
Mikael versuchte ein Lächeln. »Ich werd’s versuchen, ich versprech’s.«
Es war kräftezehrend gewesen, unter Menschen zu sein und so viel zu erzählen. Jetzt stand er im Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Er hatte den Pullover ausgezogen und konnte im Badezimmerspiegel verfolgen, wie sich seine Brustmuskeln bewegten, während er mit der Zahnbürste in der Hand genau die Bewegungen ausführte, die sein Gehirn vor langer Zeit automatisiert hatte. Ein bisschen Schaum lief ihm aus dem Mund, über das frisch rasierte Kinn hinunter. Er spuckte ihn ins Waschbecken, spülte den Mund aus, wusch sich das Gesicht und griff nach einem Handtuch. Die Energie, die er vor kurzem in Stellans Gesellschaft noch gespürt hatte, war nun aufgebraucht, er war müde. So müde wie schon lange nicht mehr. Mikael sah in den Spiegel. Er hatte abgenommen, sein Haar war glanzlos und seine Haut schlaff. Die graublauen Augen, die ihn von der glänzenden Spiegeloberfläche aus ansahen, leer und alt.
Gerade wollte Mikael seinen Blick abwenden, als er auf etwas aufmerksam wurde. Ein Blitzen, eine Bewegung in einer Ecke des Zimmers. Er drehte sich um, doch da war nichts. Ein paar Sekunden lang stand er wie angewurzelt da und sah in jede kleinste Ecke. Nichts. Dann knipste er das Licht aus und ging.
»Ich würde dich gern mit jemandem bekannt machen.«
»Hier oben?«
»Ja.«
»Ich dachte, wir wären hier ganz allein.«
»Wir sind nicht allein. Keineswegs.«
»Sind hier noch mehr Engel?«
»Hier sind viele Engel, das ist richtig, aber es gibt auch noch andere Wesen. Solche wie dich. Solche, die noch nicht weitergegangen sind ins Licht.«
»Du sprichst von Geistern.«
»Könnte man so sagen.«
»Willst du mir Angst machen? Haben sie vielleicht abgeschlagene Köpfe und rasseln mit Ketten?«
»Sie sind wie du, mit Köpfen – ohne Ketten.«
»Willst du mich mit ihnen alleine
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