Der Himmel so fern
ich meine Jacke aufgehängt, hielt er mir ein Glas hin.
»Wer will schon in Spanien sein, wenn einem hier die ganze Schärenlandschaft zu Füßen liegt.« Er blickte hinaus aufs Meer und stand eine Weile still da, dann drehte er sich lächelnd zu mir um und prostete mir zu. »Für heute Abend habe ich im Restaurant einen Tisch reserviert. Aber vielleicht hast du jetzt schon Hunger?«
Ich überlegte. »Ein bisschen schon.«
»Ich hab’ ein paar Kleinigkeiten eingekauft. Etwas Quiche, verschiedene Käsesorten, Salami, Oliven, Brot … Ich wusste nicht so genau, was du willst.«
»Klingt lecker.« Ich sah mich um, während Mikael mit dem Auspacken begann. Wie selbstverständlich er das Kommando übernimmt, dachte ich. Er will, dass ich mich hier wohl fühle. Auf dem Weg hierher hatte er ununterbrochen geredet. Ich hatte meist nur genickt und hier und da mal eine kurze Antwort gegeben. Wir kannten uns noch nicht besonders gut, denn wir waren erst ein paar Monate zusammen, und ich glaube, er war nervös. Das war ein gutes Gefühl, seine Unruhe wiederum beruhigte mich. Als ob wir auf einer unsichtbaren Welle stünden, wo nur die geringste Bewegung von mir bedeutete, dass er das Gleichgewicht wiederherstellen müsse. Ich lockerte mein Halstuch, und sofort erkundigte er sich, ob es mir im Wagen zu warm sei. Ich saß schweigend neben ihm, und er drehte das Radio an. Ich sah aus dem Fenster, und er erzählte mir etwas von der Gegend, durch die wir gerade fuhren.
Jetzt stand ich hier mit meinem Glas und sah hinaus aufs Meer. An einem Sommertag muss die Aussicht phantastisch sein, dachte ich und versuchte mir vorzustellen, dass die Wasseroberfläche blau statt grau schimmerte. Ich ging hinüber zu Mikael.
»Wem gehört dieses Haus?«
»Er heißt Jens. Mitte fünfzig, geschieden, aber jetzt hat er wohl wieder eine Freundin – eine Russin, glaube ich.«
»Aha.«
»Ja … Und die Antwort auf deine nächste Frage: Ja, er hat auch ein Motorrad – eine Harley Davidson.« Mikael grinste. »Kannst du mal nachsehen, ob man hier Musik hören kann?«
Ich ging zurück ins Wohnzimmer und fand die Stereoanlage in einem Schrank versteckt. Ein großer Stapel CD s lag daneben. Nach kurzer Durchsicht entschied ich mich für eine Aufnahme von diversen Opernarien, so etwas wie »Greatest Hits«, was wohl darauf schließen ließ, dass der Besitzer kein besonderer Musikkenner war. Ich selbst machte mir nicht viel aus klassischer Musik, aber ich wusste, dass Mikael sie liebte, und als die ersten Töne aus den Lautsprechern erklangen, musste ich zugeben, dass die Kombination aus Oper und diesem Blick aufs Meer gigantisch war.
Der Champagner machte sich langsam bemerkbar, und unser Gespräch am Tisch wurde entspannter. Wir lachten und aßen, hielten zwischendrin manchmal inne, um einer besonders schönen Passage zuzuhören.
»Welche Musik magst du?«, fragte er mich plötzlich.
»Ich? Wahrscheinlich so ziemlich alles, würde ich sagen.«
»Klassisch?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Kommt auch vor.«
»Meine Mutter hat zu Hause immer klassische Musik gehört. Damals gefiel sie mir nicht besonders, aber ich nehme an, sie hat sich trotzdem in mir eingenistet.« Er lächelte. »Was für Musik habt ihr zu Hause gehört?«
»Gar keine, soweit ich mich erinnern kann.«
»Auch deine Eltern nicht? War dein Vater nicht Künstler?«
»Und das heißt?«
»Keine Ahnung. Ich dachte wohl, dass …«
»Dann hast du eben falsch gedacht.«
»Dann habe ich das.«
Schweigen. Mikael unternahm noch einige Versuche, das Gespräch wieder anzukurbeln, aber mir war die Lust vergangen. Wie leicht es für ihn war, mir solch eine Frage vor die Füße zu schleudern, dachte ich. Die Leute meinten immer, sie hätten ein Recht dazu. Nachzufragen, zu schnüffeln, zu bohren. Als ob es ein Geheimnis zu entdecken gäbe. Aber in meinen Erinnerungen gab es kein verbuddeltes Gold, das man ausgraben konnte, und das Letzte, worauf ich Lust hatte, war, an meine Familie erinnert zu werden und an die Kindheit, die ich endlich hinter mir gelassen hatte. Als Mutter starb, war die letzte Verbindung gekappt, und ich war ehrlich gesagt erleichtert. Am Ende hatte sie mich immer häufiger angerufen. Damals studierte ich in Uppsala, aber der räumliche Abstand zwischen uns reichte nicht, um sie mir vom Hals zu halten. Wahrscheinlich wollte sie ihr Schicksal mit jemandem teilen. Meistens ging es um Geld und offene Rechnungen. Nach und nach erzählte sie von den Drohungen
Weitere Kostenlose Bücher