Der Himmel über der Heide (German Edition)
Zunächst war man von einem tragischen Unglücksfall ausgegangen, doch nun musste man auf Suizid schließen, auf einen Selbstmord aus Liebeskummer.
Bei dem Gedanken an Andi wurde Kati plötzlich beinahe schlecht. Sie schämte sich. Hatte sie Andi wirklich als Mörder ihrer Schwester bezeichnet? Das war unverzeihlich. Und Kati konnte sich nicht vorstellen, wie sie ihr Verhalten jemals wiedergutmachen konnte. Und Andi? Er hatte sich ihr gegenüber immer nur aufrichtig benommen.
Kati seufzte tief. Seit damals hatte sie einfach nicht glauben wollen, dass an den Gerüchten etwas dran war. Und sie hatte sich stets geweigert, den vermeintlichen Abschiedsbrief zu lesen. Zu grausam war die Vorstellung, ihre Zwillingsschwester könne ihr Leben tatsächlich freiwillig beendet haben. Würde dann nicht auch sie, Kati, diese Todessehnsucht in sich tragen? Jule war doch immer die stärkere und mutigere von ihnen gewesen.
Kati legte das Tagebuch zurück in die Kiste und ließ noch einmal den hellbraunen Haarzopf durch ihre Finger gleiten. Es war ein seltsames Gefühl, fremd und vertraut zugleich. Kati erinnerte sich, dass sie ihren eigenen Zopf damals weggeworfen hatte, als Elli beim Anblick ihrer kurzen Haare in Tränen ausgebrochen war.
Unwillkürlich musste Kati lächeln. Was würde sie nur ohne Elli anfangen?
Sie schnäuzte sich und legte auch den Zopf und die Bilder zurück in die weiße Kiste. Dabei fiel eine Schwarz-Weiß-Aufnahme heraus und landete vor ihren Füßen. Als Kati danach griff, blickte sie in das Gesicht ihrer Schwester, die ihren Arm um sie gelegt hatte und breit in die Kamera grinste. Jetzt, über zehn Jahre später, erkannte Kati sich selbst in keinem der beiden Gesichter wirklich wieder.
«Warum?», fragte sie sich, «warum durfte Jule nicht auch älter werden? Warum musste sie so früh gehen?»
Doch sie wusste, es gab keine befriedigende Antwort auf diese Fragen. Und es ergab letztlich auch keinen Sinn, länger darüber zu spekulieren, was gewesen wäre, wenn ihre Schwester damals nicht so impulsiv gehandelt hätte. Jule war, wie sie war. Und so, wie sie war, hatte Kati sie geliebt.
Sie legte das Foto beiseite. Eines Tages würde sie es in eins ihrer eigenen Alben einsortieren, wenn sie auch den Rest ihrer Sachen aus Hamburg geholt hatte.
Dann schloss sie die Kiste und mit ihr ein trauriges Kapitel ihres Lebens.
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24
Am nächsten Tag ging Kati über den Hof zum alten Hühnerstall, von wo das Kreischen einer elektrischen Säge zu hören war. Sie fröstelte und zog die Strickjacke, die sie sich schnell noch übergeworfen hatte, enger um ihren Oberkörper.
Sie hatte eine besonders unruhige Nacht hinter sich. So viele Dinge waren ihr durch den Kopf gegangen und hatten sie vom Schlafen abgehalten. Erst als es schon dämmerte, war sie imstande gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen. Und der nahm an diesem Morgen immer mehr Gestalt an: Sie wollte sich bei Andi für ihr Verhalten entschuldigen.
Es herrschte eine beinahe schon herbstliche Stimmung. Der Wind hatte bereits die ersten gelben Blätter von den großen Birken geweht. Seit Kindertagen war für Kati der Übergang in die dunkle Jahreszeit mit einer eher bedrückenden Stimmung verbunden, denn im Herbst ging stets auch das lebhafte Treiben auf dem Heidehof zu Ende.
Es war ein schwerer Gang vom Haupthaus bis zum Stall, aber Kati wollte ihn keine Minute länger aufschieben. Obwohl es sie große Überwindung kostete, musste sie sich bei Andi entschuldigen. Und Kati war froh, dass er an diesem Tag überhaupt wieder auf den Hof zurückgekommen war, nachdem sie ihn in Dorothees Büro als Mörder bezeichnet hatte.
Aber was würde er sagen? Wie würde er auf ihre Entschuldigung reagieren? Ob er sie überhaupt anhören würde?
Unsicher legte Kati die Hand an die Stalltür und atmete noch einmal tief durch.
Als sie die Tür öffnete, verstummte das Geräusch der Maschine. Das Tageslicht drang nun bis ins Innere des verwinkelten Raumes vor. Andi ließ vom Sägen eines langen Brettes ab und drehte sich zu ihr um.
Kati war erleichtert, dass er ihr zur Begrüßung zunickte. Denn sie hätte gut verstehen können, wenn er sie ignoriert oder sofort wieder weggeschickt hätte. Stattdessen stand er ganz ruhig da und wirkte nicht einmal besonders überrascht, sie zu sehen.
Auf einer Decke an der Wand lag Bobby und schaute nur kurz auf, als Kati näher trat. Er schien sich heute ausnahmsweise einmal nicht für Besuch zu
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