Der Himmel über der Heide (German Edition)
Familienglück damals zur Schau gestellt hatte!
Elli schüttelte den Kopf. «Das muss die kleine Lisa gewesen sein. Andreas Witthöft kümmert sich rührend um sie. Soweit ich weiß, ist er ihr Patenonkel. Ich glaube, der Vater ist schon längst über alle Berge, und die Mutter ist ziemlich überfordert.»
Mit großen Augen sah Kati ihre Großmutter an. «Bist du sicher?»
«Tja, so ist das, wenn man der Heimat zu lange den Rücken kehrt», erklärte Elli ein wenig spöttisch.
Zugegeben, dachte Kati, vielleicht hätte ich dann tatsächlich mitbekommen, dass Andi gar nicht das glückliche Familienleben führt, das ich ihm unterstellt habe.
«Und ich dachte immer, für diese Saskia hätte er Jule verlassen», sagte Kati mehr zu sich selbst.
Doch Elli hatte ihr genau zugehört. «Nach allem, was damals geschehen ist, hätte der Andreas so schnell wohl mit gar keiner Frau glücklich werden können.» Sie knetete ihre Hände. «Der arme Junge hat auch viel durchgemacht. Und im Übrigen auch schon, als Juliane und er ein Paar waren, wenn du mich fragst.»
«Wie meinst du das denn?», fragte Kati verständnislos.
«Na, du weißt doch, wie trotzig unsere Jule sein konnte.»
Da musste Kati ihr zwar recht geben, trotzdem verstand sie nicht, warum ihre Großmutter Andi so in Schutz nahm. «Das entschuldigt sein Verhalten aber nicht.»
Hatte sie sich in ihrem Urteil über Andi und über das, was damals geschehen war, etwa so getäuscht?
«Weißt du, Liebes, es gibt ein paar Dinge, die du dabei vergessen hast.»
Fragend sah Kati ihre Großmutter an. «Was meinst du?»
«Nun, jeder nimmt die Welt um sich herum anders wahr. Und es gibt meistens nicht nur eine Wahrheit, die für alle gilt.» Sie räusperte sich. «Was ich damit sagen will … Das, was in jener Brandnacht geschehen ist, hatte nicht nur für dich, nicht nur für unsere Familie Folgen. Auch andere haben unter den Ereignissen gelitten oder leiden noch immer darunter. Für den alten Witthöft beispielsweise bedeutete es das berufliche Ende. Und Andi? Er scheint uns gegenüber ohne Groll. Und das nach allem, was seiner Familie passiert ist. Er gibt ein kleines Vermögen für Blumen auf Jules Grab aus, statt das Geld zu sparen. Ich bin wirklich froh, dass wir ihm jetzt mit dem Sanierungsauftrag ein bisschen unter die Arme greifen können.»
«Er bringt Blumen zu Jules Grab?» Noch während Kati die Frage aussprach, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie erinnerte sich an den bunten Strauß. Hatte sie sich so täuschen können?
«Auch sein Vater leidet noch immer unter Jules Tod.»
Kati wollte gerade protestieren, als ihre Großmutter abwehrend beide Hände hob. «Ich weiß, du willst davon am liebsten nichts hören. Aber vielleicht ist es an der Zeit, sich den Tatsachen zu stellen: Juliane wurde uns genommen, aber du weißt, dass sie es selbst so wollte.»
Kati musste schlucken. Irgendwo in ihrem Unterbewusstsein rumorte es gewaltig. «So ein Quatsch. Dafür gibt es überhaupt keine Beweise», sagte sie schnell.
Doch anstatt etwas zu erwidern, deutete Elli nur auf eine Stelle unter dem Schrank. Als Kati ihrem Blick folgte, sah sie die weiße Kiste, die Jule immer «ihre Schatzkiste» genannt hatte.
«Da lag ihr Abschiedsbrief drin», sagte Elli traurig. «Du wolltest ihn nie lesen, wolltest es nie akzeptieren. Genauso wie du Julianes Tod nicht akzeptieren konntest – und es ganz offensichtlich bis heute nicht kannst.» Mit müden Augen sah Elli sie an. «Aber vielleicht ist es allmählich an der Zeit, das Vergangene zu akzeptieren.»
***
Nachdem ihre Großmutter das Zimmer verlassen hatte, starrte Kati wie hypnotisiert die kleine weiße Kiste an, die wie ein Leuchtfeuer plötzlich unter dem Schrank zu strahlen schien.
All die Jahre war diese Kiste ein drohendes Symbol gewesen für den Tod der Schwester und das Geheimnis jener Nacht. Kati hätte es am liebsten für immer dabei belassen. Niemals hatte sie den Mut gehabt, die Kiste zu öffnen. Und das nicht nur, weil sie die Würde ihrer Schwester bewahren wollte, sondern vor allem aus Selbstschutz, wie sie sich jetzt eingestehen musste. Sie wollte sich den schmerzhaften Erinnerungen entziehen, die grausame Wahrheit nicht akzeptieren.
Doch nun schien es, als könne sie sich den drängenden Fragen nicht mehr länger verschließen.
Kati gab sich einen Ruck, zog die Kiste unter dem Schrank hervor und stellte sie auf das Bett. Mit klopfendem Herzen hob sie den Deckel hoch. Es roch nach altem
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