Der Himmel über der Heide (German Edition)
die drückende Hitze an diesem Spätsommertag. Und sie bemerkte auch nicht den aufkommenden Wind, der ein herannahendes Gewitter ankündigte.
Sie las und las und las. Und mit jeder Seite wurde jener Sommer wieder lebendig, in dem Jule und Andi ein Liebespaar wurden und sie immer mehr ausgegrenzt hatten. Jules Glück schien perfekt, und sie hatte keine Augen für ihre Schwester, die darunter litt. Doch die Art und Weise, in der Jule über ihre Liebe zu Andi schrieb, änderte sich allmählich. Wiederholt erwähnte sie Streitereien und Auseinandersetzungen mit Andi. So beschwerte sich Jule in ihrem Tagebuch beispielsweise vermehrt darüber, dass Andi während des Abiturs das Leben plötzlich nicht mehr so leicht und unbeschwert genoss, wie sie es gewohnt war. Kati erkannte, dass Andi sich offenbar Gedanken um seine Zukunft gemacht hatte, wogegen Jule lieber in einer ewig sorglosen Jugend verharrt wäre. Immer häufiger fanden sich in den Aufzeichnungen Sätze wie: «Heute hat er schon wieder gemeckert, ich soll lieber für meine Prüfung lernen, statt auszuschlafen.»
Kati erinnerte sich, dass sie mit ihrer Schwester ebenfalls Streit hatte wegen der Abi-Prüfungen. Aber Jule hatte eigentlich auch nie groß lernen müssen, die Aufgaben waren ihr schon immer leichter gefallen als Kati.
Und dann traute Kati ihren Augen nicht. Schwarz auf weiß stand dort: «Heute hat Andi mich erwischt, wie ich mit Thorsten geknutscht habe. Gut so. Soll er ruhig eifersüchtig sein. Dann spielt er sich wenigstens mal nicht als mein Vormund und Erzieher auf. Ich kann’s nicht mehr hören, dieses ewige Gemaule: Juliane, werd mal erwachsen! Kümmere dich um deine Zukunft! Lern was fürs Abi, du kannst auch später noch zum Schwimmen gehen …»
Kati war völlig irritiert. Das konnte doch nicht wahr sein! Jule war Andi, ihrer großen Liebe, untreu gewesen? Und wieso hatte sie dann nichts gesagt, als Kati ihr berichtete, was sie unten an der Brunau beobachtet hatte? Immerhin hatte sie Andi der Untreue beschuldigt und ihn bei Jule angeschwärzt. Noch deutlich erinnerte sich Kati an Jules Wutanfall, als sie ihr erzählte, wie sie Andi und Saskia eng umschlungen am Bach gesehen hatte. Immer wieder waren die beiden stehen geblieben, um sich zu küssen. Damals hatte Kati gedacht, sie müsste für die Schwester kämpfen und sie vor dem größten Schmerz bewahren. Aber Jule hatte gar nicht so niedergeschlagen reagiert, sondern war einfach nur furchtbar wütend geworden.
So deutlich wie in diesem Moment hatte Kati das noch nie gesehen: Jule war gar nicht traurig oder schockiert. Sie war einfach wütend, weil sie nicht mehr verheimlichen konnte, dass ihre Beziehung gescheitert war. Und zwar durch ihre eigene Schuld.
Zwei Seiten weiter fand Kati dann den Eintrag über das Ende der Beziehung: «Heute hat Andi mit mir Schluss gemacht. Ich sei nicht reif genug für eine Verlobung! Der hat sie ja wohl nicht mehr alle!»
Ungläubig schüttelte Kati den Kopf. Warum bloß hatte Jule ihr das alles nicht erzählt? Stattdessen vertraute sich ihre aufgebrachte Schwester dem Tagebuch an …
Kati las weiter: «Aber das lass ich mir nicht gefallen, so einfach kommt mir der Typ nicht davon. Den hol ich mir zurück! Wollen wir doch mal sehen, wie schnell der mir wieder aus der Hand frisst, wenn er denkt, ich würde mich seinetwegen umbringen.»
Kati schlug sich die Hand vor den Mund. Langsam ließ sie das Tagebuch sinken. Sie saß auf dem Fußboden und starrte ins Leere. Krampfhaft versuchte sie, die Bedeutung all dieser Worte einzusortieren. Jule hatte einen Selbstmordversuch bloß vortäuschen wollen, um Andi zurückzuerobern? Sie hatte seine Liebe erzwingen wollen?
Aber warum hatte Jule ihrem Exfreund einen derart gefährlichen Denkzettel verpassen wollen? Das Feuer hatte das Holzlager seines Vaters in Brand gesetzt. Und es hätte noch weitaus größeren Schaden anrichten können.
Kati konnte einfach nicht glauben, mit wie viel Energie ihre Schwester der zynischen Idee eines vorgetäuschten Selbstmords nachgegangen war. Der einzige Satz, der sich in Katis Kopf festsetzte, lautete: «Sie hat uns alle belogen!»
Und dann kam wie durch einen Schleier langsam die Erinnerung in Katis Bewusstsein zurück. Nach jener Nacht war in Jules Zimmer ein Abschiedsbrief gefunden worden, der angeblich keinen Zweifel daran ließ, dass sie die Tischlerei der Witthöfts hatte anzünden wollen, um sich an Andi zu rächen und in dem Feuer selbst aus dem Leben zu gehen.
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